Nur ein Liebestraum am Mittelmeer
um Stunde. Trotz der zahlreichen Besucher schaffte sie es, ihre Konzentration aufrechtzuerhalten. Am späteren Nachmittag fehlte ihr nur noch die oberste Etage.
Wie einer der Fremdenführer erklärt hatte, hing die Behandlung der einstigen Gefangenen von ihrem Reichtum und gesellschaftlichen Stand ab. Edmond Dantes, der Gefangene in Dumas’ Roman, verbrachte seine Zeit ganz unten in einem dunklen Verlies.
Wohlhabendere Insassen befanden sich im zweiten Stock und hatten ihre eigenen Zellen. Im obersten Geschoss, wo es Fenster und Kamine gab, lebten jene, die sich mit Hilfe von außen dieses Privileg erkaufen konnten.
Das Château stellte die reinste Traumkulisse für ein Videogame dar. Es schien geradezu dafür gebaut worden zu sein.
Noch ein paar Striche, und dann bin ich fertig, dachte Laura, als jemand neben ihr sagte: „Hast du den Fremdenführer nicht gehört? Sie schließen für heute.“
Die Stimme war ihr so vertraut, dass sie vor Überraschung den Zeichenblock fallen ließ. Raoul hob ihn sogleich auf und blätterte ihn durch. „Dieselbe Ausdruckskraft und Klasse.“
„Vielen Dank“, erwiderte sie leise, konnte vor Überraschung kaum sprechen.
„Gehen wir. Der Pilot wartet auf uns.“
Laura packte ihre Sachen ein und folgte ihm die alten Steinstufen hinunter zum Ausgang. Sie fuhren zum Festland zurück und landeten eine halbe Stunde später auf dem Anwesen.
Kaum hatte Raoul sie in sein Wohnzimmer geleitet, drehte sie sich zu ihm. „Wenn du mir nicht sofort erzählst, was inzwischen passiert ist, weiß ich nicht, was ich tue.“
Schweigend zog er das Jackett aus und warf es achtlos über die Rückenlehne eines Stuhls. „Im Moment sind Guy und Paul bei Chantelle in ihrem Krankenzimmer, wo sie sich von der Migräne erholt.“
Laura konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen, die sie so lange bekämpft hatte. „Es ist so schrecklich. Ich ertrage es nicht.“
„Man könnte sagen, dass Guy kurz davor war, den Verstand zu verlieren, als er verlangte, mit ihren Ärzten zu reden. Und dann ist etwas Seltsames geschehen.“ Raoul schüttelte den Kopf. „Sie verneinten alle, dass sie einen Hirntumor habe. Zum Beweis hat man bei ihr gleich eine neue MRT gemacht. Sie hat nichts Auffälliges gezeigt.“
„Wie bitte?“
„Als Chantelle schließlich nach der Infusion aufgewacht ist, haben sie sie gefragt, woher sie die Idee hätte, dass sie sterben würde. Sie hat ihnen das Gleiche erzählt wie dir. Also hat man den Arzt herbeigerufen, der am Tag ihres Unfalls in der Notaufnahme Dienst hatte. Wie es scheint, hat sie irgendwann nach ihrer Einlieferung ein Gespräch mit angehört, das er mit einem Kollegen über eine andere Patientin geführt hat.“
„Das heißt, Chantelle wird nicht sterben?“
„Sie ist bei bester Gesundheit.“
„Oh Raoul, dem Himmel sei Dank.“ Sie legte ihm die Arme um den Nacken und hielt ihn wohl mehrere Minuten lang fest, während sie vor Erleichterung und Glück an seiner Schulter weinte.
„Dem Himmel sei Dank“, wiederholte er schließlich flüsternd.
Laura stutzte. In seiner Stimme hatte keine Freude mitgeschwungen. Sie befreite sich aus seinen Armen und sah ihn an. Zweifellos war er von der langen Geschäftsreise und der Angst um Chantelle erschöpft. Trotzdem musste er noch Kraft besitzen, sich zu freuen. Wieso tat er es nicht? Fieberhaft suchte sie nach einem Grund.
„Kann Guy ihr nicht verzeihen?“
Reglos stand Raoul da und wirkte irgendwie verloren. „Ich habe absolut keine Ahnung. Aber ich weiß eines: Wäre Chantelle meine Frau, könnte ich ihr nicht verzeihen.“ Er richtete die Augen auf Laura und durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. „Ich bin überzeugt davon, dass es nirgends auf der Welt eine ehrliche Frau gibt.“
Seine Worte besiegelten das Ende ihrer jungen Beziehung. Er konnte ihr nicht verzeihen, dass sie Chantelles Geheimnis eine ganze Woche lang niemandem erzählt hatte. Genauso gut hätte er sagen können: „Geh mir aus den Augen und kehr nie wieder zurück.“
Sie drehte sich um und stürmte aus der Villa. Sobald sie ihre Sachen gepackt hatte, würde er seinen Willen bekommen.
10. KAPITEL
Der Richter rückte seine Brille zurecht. Laura hielt den Atem an, während ihr Anwalt ihr kurz aufmunternd die Hand drückte.
„In Sachen Stillman gegen Stillman, verhandelt vor dem Amtsgericht von Santa Barbara im Bezirk Santa Barbara, Kalifornien, hat das Gericht den Scheidungsantrag wegen Unvereinbarkeit der Charaktere
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