Nur ein Märchen?: Gratisaktion bis 15.10.2013!
rechtmäßigen Besitzern zurückgeben. Der Rest geht an das Nibelungen-Museum.“ Entschuldigend sieht er uns an, scheint auf eine Antwort oder wenigstens ein paar tröstende Worte zu warten.
George findet als erster nicht nur die Worte, sondern auch den Mut, etwas dazu zu sagen. „Keiner kann etwas für seine Familie. Sieh dir die Nibelungen an. Rachsucht, Gemeinheit, Geiz und Größenwahn. Und doch sind aus diesem Familienstamm gute Menschen hervorgegangen. Denk an Hildegard von Bingen. Gütig, barmherzig, voller Nächstenliebe. Die Familie sagt nichts über dich aus. Du entscheidest, wer du bist und was du bist.“
Ich bin ganz gerührt von Georges Worten. Er hat mich schon oft aufgebaut, wenn es mir nicht gut gegangen ist, und er hat noch immer die richtigen Worte gefunden, um mich zu trösten, aber das hier hat eine andere Qualität. Markus nickt ihm dankbar zu.
„ Apropos Hildegard von Bingen, das müsst ihr euch ansehen“, sagt er schnell und öffnet eine weitere Brandschutztür. Wir müssen nun schon den sechsten oder siebten Raum betreten, alle sehen gleich aus und sind doch verschieden.
In diesem Zimmer hängen Gemälde an den Wänden, hinter dickem Panzerglas, in einer Schutzatmosphäre, ähnlich wie die Mona-Lisa im Louvre. Auf eines dieser Bilder steuert Markus nun zu.
Zu sehen ist die typisch mittelalterliche Darstellung einer Nonne, flach, nicht plastisch, so dass das Gesicht wie plattgedrückt wirkt. Auf den ersten Blick sieht es aus wie hundert andere Heiligenbilder.
Zur Kommunion haben die Eltern meiner Freundinnen Bildchen wie diese drucken lassen. Die Mädchen haben diese Kärtchen untereinander getauscht und verschenkt. Ich hatte nie ein eigenes Bild, weil meine Eltern kein Geld für „so einen Blödsinn“ – Originalton Papa – ausgeben wollten. Logischerweise wollte auch keine mit mir tauschen und geschenkt bekam ich auch keines. Damals ein Drama, heute eine Nichtigkeit. Wie sich die Dinge ändern können.
Gedankenverloren betrachte ich das Gemälde. Oranger Hintergrund, ein Frauengesicht, ein angedeuteter Heiligenschein, vor der Brust zum Gebet gefaltete Hände, aus denen ein Rosenkranz herausbaumelt. Wie gesagt – ein typisch mittelalterliches Heiligenbild.
„ Das ist ein Porträt von Hildegard von Bingen“, erklärt Markus. „Es ist von einem zeitgenössischen Maler angefertigt worden, wie man an der Signatur hier unten erkennen kann.“ Er deutet auf die rechte untere Ecke des Bildes. Dort kann ich nur ein unleserliches Gekrakel erkennen, den anderen geht es ebenso. Markus öffnet die Schubladen eines Schrankes, der neben dem Bild an der Wand angebracht ist. Er zieht mehrere Bögen Papier hervor, die er vor uns ausbreitet.
„ Hier, wir haben die Signatur vergrößern lassen, damit man sie besser erkennen kann. Und dann haben wir nach anderen Bildern mit derselben Signatur gesucht. Nach langen Recherchen haben wir herausgefunden, dass der Maler ein Mönch war, der hauptsächlich religiöse Schriften illustriert hat. Aber auch passend zu Kirchenliedern hat er Bilder gemalt und auf diesem Weg muss er Hildegard von Bingen begegnet sein. Er hat nämlich einige der von ihr geschriebenen Lieder ebenfalls mit seinen Zeichnungen verziert. Es war nicht einfach, das herauszufinden.“ Nachdem wir die Bögen alle gebührend bestaunt haben, packt er sie wieder weg und wendet sich erneut dem Gemälde an der Wand zu.
„ Wir wissen also, dass dies ein Bild ist, das zu Lebzeiten von Hildegard von Bingen gemalt wurde.“
„ Aber woher willst du wissen, dass es auch Hildegard ist, die darauf abgebildet ist? Es sind keine Gesichtszüge erkennbar. Das ist eine stilisierte Darstellung, das könnte jeder, besser gesagt JEDE, sein“, unterbricht ihn Florian.
Die gleiche Frage habe ich mir auch gestellt. Denn – wie bei allen Bildern dieser Art – sind die Personen nicht anhand ihrer Gesichtszüge identifizierbar. Mittelalterliche Kunst eben, flach, typisiert, nicht individuell. Es könnte jede sein.
Markus nickt und deutet auf den Rosenkranz, der zwischen den Händen der Frau hervorschaut. „Hier. Der Rosenkranz, seht ihn euch genau an“, fordert er uns auf.
„ Das Familienwappen!“, ruft George begeistert aus.
„ Genau. Der Rosenkranz trägt das Familienwappen ihres Vaters Hildebrecht. Somit wissen wir, dass dies ein Porträt der berühmten Hildegard von Bingen ist“, bestätigt Markus.
„ Okay, hier haben wir also ein zeitgenössisches Porträt einer Nonne aus dem
Weitere Kostenlose Bücher