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großes Interesse hast du daran? Ich werde dich wohl nie für die deutschen Sagen oder das Theater begeistern können“, grinst er.
„ Wohl eher nicht“, gebe ich zu, froh, dass er es nun hoffentlich ein für alle Mal einsieht. „Aber wie lange geht das denn jetzt hier?“
Er schaut ins Programmheft – mit Sicherheit nur, um mich zappeln zu lassen. „Also die Vorstellung dauert neunzig Minuten. Zufrieden? Danach gibt es noch ein Meet-and-Greet mit den Schauspielern.“
„ Aber George“, quengele ich, „ich will nicht danach noch hier bleiben, um irgendwelchen Leuten die Hand zu schütteln. Lass uns doch nach der Vorstellung was essen gehen.“ Ein Gong ertönt, die Stimmen im Publikum werden leiser.
„ Wir werden sehen“, flüstert George mir noch schnell zu, bevor er seine geballte Aufmerksamkeit auf die Bühne richtet.
Ein Clown mit einer Laute kommt hinter dem Vorhang heraus. Ich nehme an, es soll nicht wirklich ein Clown sein, eher ein Herold oder Minnesänger oder so, aber für mich sieht er einfach nur aus wie ein mittelalterlicher Clown. Er drückt sich sehr gewählt aus und erklärt dem „hochverehrten Publikum“, dass man sich am „königlichen Hofe zu Worms“ befinde, wo die „holde Maid Kriemhild und ihre edlen Brüder“ wohnen.
Oh mein Gott, das ist noch viel schlimmer als ich es mir vorgestellt habe! Ich schiele unauffällig auf meine Armbanduhr. Zwei Minuten sind vorbei, das heißt es bleiben noch achtundachtzig Minuten. Der Clown faselt irgendetwas davon, dass man nun Zeuge der herzzerreißenden Liebesgeschichte zwischen Kriemhild und Siegfried werden würde.
Himmel, das wird ja immer besser hier. Kriemhild und Siegfried, was sind denn das für Namen? Als George uns davon erzählt hat, dachte ich, er veräppelt uns! Shakespeare hat die Helden seiner großen Liebesgeschichte Romeo und Julia genannt, damit kann man was anfangen. Wer seufzt nicht und denkt: „Hach, ich wünsche mir auch einen Romeo.“ Romeo, der Inbegriff des Rosenkavaliers, des tragisch-romantischen Helden. „Hach, ich wünsche mir auch einen Siegfried“ Brrrrr, wie das schon klingt. Siegfried. Noch fünfundachtzig Minuten.
Auftritt Kriemhild. Eine energische junge Frau mit dichtem, dunkelblondem Haar, das zu einem langen Zopf geflochten ist. Sie trägt ein schlichtes langes Kleid aus Samt und eine einfache Kette als einziges Schmuckstück. Nicht gerade der Inbegriff eines Burgfräuleins oder dessen, was man sich unter einer Königstochter vorstellt.
Kriemhild erklärt ihrer Mutter Ute gerade, dass sie auf keinen Fall bereit sei, ihr Leben einem Mann zu schenken. Ihre Mutter versucht, sie von der Ehe mit einem Königssohn aus Xanten zu überzeugen, doch Kriemhild gibt die Feministin und will sich keinem Menschen unterwerfen, will frei sein, will nicht auf eine Rolle als Ehefrau und Mutter reduziert werden.
In einem doch recht ergreifenden Plädoyer für die Frauenrechte – erstaunlich modern für das 5. Jahrhundert! – erklärt sie, dass sie denselben Herrschaftsanspruch habe wie ihre drei Brüder.
Auftritt Gunther. Kriemhilds ältester Bruder, ein gutaussehender Mann in etwas albernen Hosen. Er ist seit dem Tod des Vaters Herrscher über das Königreich Burgund und will dessen Stellung weiter festigen. Sein Begleiter ist ein seltsamer Typ mit dem Namen Hagen von Tronje.
Er umschmeichelt den König und ist dabei trotzdem äußerst charmant zu Kriemhild und Ute. Wäre er nicht wahnsinnig gutaussehend, würde man ihn für einen schmierigen, ekligen Schleimer halten – das scheint zumindest seine Rolle zu sein. Er wirkt zwar aalglatt, aber trotzdem in gewisser Weise anziehend und angenehm. Wieder ein Beweis dafür, dass gutaussehende Menschen viel eher sympathisch wirken als hässliche, selbst wenn sie es darauf anlegen, der gemeine Bösewicht zu sein.
Gunther überbringt die Nachricht, dass Siegfried, besagter Königssohn aus Xanten, soeben mit seinem Gefolge eingetroffen sei, um bei ihm um Kriemhilds Hand anzuhalten. Kriemhild ist erbost darüber, dass ihr Bruder dieser Heirat ohne zu zögern zustimmen will. Ute sieht vor allem die Vorteile für Kriemhild, da man Siegfried für einen standesgemäßen Bräutigam hält und Kriemhild selbst einmal Königin von Xanten werden kann.
König Gunther möchte in erster Linie die politischen Vorteile ausnutzen, da Siegfried als hervorragender Kämpfer gilt und über eine große Streitmacht verfügt. Diese – so Gunthers Hoffnung – würde ihm zu Hilfe kommen,
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