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Tage machen“, verspricht er mir vergnügt. Ich verziehe das Gesicht und sage leidend: „So schön es halt in Worms sein kann.“ Und betone dabei das Wort „Worms“ besonders verächtlich, so verächtlich wie es nur geht.
„ Was, wo fahrt ihr hin? Und warum?“, will Emily wissen. Das ist das Stichwort für George. Er springt auf und beginnt ganz euphorisch zu erzählen.
„ Ich gebe doch dieses Semester ein Seminar an der Uni über die Geschichte der Nibelungen.“ Emily guckt verständnislos, im Gegensatz zu mir hat sie noch nicht viel von Georges Arbeit gehört.
„ Was für Lungen?“, fragt sie, ohne den geringsten Anflug einer Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte.
„ Nicht Lungen. NIBELUNGEN“, erklärt George, ohne seine gute Laune zu verlieren.
„ Hach Emily, my dear, du bist genauso ein Kulturbanause wie Hilda. Die Nibelungensage ist so etwas wie das deutsche Pendant zur Artussage in England. Eine Geschichte voller Liebe und Leid und Verrat, und einen Schatz gibt es auch! Ihr seid mir eine Nation! Ihr habt eine der spannendsten Legenden des Mittelalters und wisst nichts darüber, aber auch rein gar nichts! Aber fragt man euch nach König Artus, dann könnt ihr einem stundenlang was von den Rittern der Tafelrunde, dem Schwert Excalibur und dem Zauberer Merlin erzählen!“ Er schnappt in gespielter Empörung nach Luft. „Ihr interessiert euch nicht für eure Kultur, dabei hat dieses Land doch so viel zu bieten!“
Emily und ich werfen uns einen Nicht-schon-wieder-Blick zu. Wenn George richtig in Fahrt gerät, dann hält er uns lange, sehr lange, Vorträge über das, was unsere Kultur schon alles Großartiges hervorgebracht hat. Er als ausgewanderter Engländer versteht nicht, dass man als Deutscher nicht gut mit einem zu großen Stolz auf die Kultur des eigenen Landes herumlaufen kann. Und er versteht nicht, dass es andere Themen gibt, die uns brennender interessieren. Die neue Sommerkollektion von Prada zum Beispiel.
George bemerkt unser Desinteresse und die Blicke, die wir austauschen. „Okay, machen wir es kurz. Ich gebe dieses Seminar über die Geschichte der Nibelungen, verstanden?“ Emily nickt gehorsam, George fährt zufrieden fort.
„ Einer der Handlungsorte dieser Sage ist Worms. Und dort finden jedes Jahr die Nibelungen-Festspiele statt. Ähnlich wie Karl-May-Festspiele, halt nur ohne Indianer. Und es geht dabei um die Geschichte von Kriemhild und Siegfried. Das sind, um es vereinfacht auszudrücken, die Hauptpersonen. Ich fahre mit den Studenten, die mein Seminar besuchen, nach Worms, um dort die Sage der Nibelungen und ihre Wurzeln genauer zu untersuchen.“ Mit dem Stolz, wie nur ein waschechter Brite ihn authentisch zur Schau stellen kann, sieht er Emily erwartungsvoll an. Ich weiß, dass er nun Komplimente hören will. Er sei der beste Dozent, den man sich nur vorstellen könne, er sei so einfallsreich, so engagiert – das volle Programm.
„ Aha. Das klingt ja unheimlich spannend“, kichert Emily, die für solche Sachen noch weniger übrig hat als ich, und zerschmettert damit Georges Hoffnung auf eine ordentliche Lobeshymne.
Als persönliche Assistentin in einem Großkonzern ist sie auch denkbar weit von dieser Thematik entfernt. George verdreht die Augen und seufzt, dabei fällt sein Blick auf den Couchtisch.
„ Oreos und Baileys?“, fragt er. „Was ist passiert?“ Nicht nur ich kenne ihn gut, auch er kennt mich und meine Angewohnheiten.
Emily wirft mir einen flehenden Blick zu. Sag ihm nichts , soll das wohl heißen. Okay, wir müssen ihm nicht die ganze Geschichte erzählen.
„ Ich hab‘ mich mal wieder ein bisschen tollpatschig angestellt“, beginne ich und liefere Emily damit den Einstieg, um die Geschichte so zu erzählen, wie sie es für richtig hält.
Sie greift dankbar meine Vorlage und damit mein Missgeschick auf und erzählt George ausführlich von unserem Zusammentreffen auf dem Flur, ich in der Unterhose in einer Kaffeepfütze sitzend. Dabei verschweigt sie unseren Besucher, den nackten Mann, geflissentlich. Walter.
Nein, über Emilys Affäre will ich jetzt nicht nachdenken, sonst kann ich mich nicht beherrschen und muss mit ihr darüber sprechen. Also denke ich lieber an etwas anderes. George.
Ich sehe ihn an und muss lächeln. Aufmerksam hört er Emily zu, seine blauen Augen sind konzentriert auf sie gerichtet, der Kopf mit den hellbraunen Haaren – und ein paar grauen Strähnen darin, auch wenn er das nicht wahrhaben will – nickt
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