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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramiro Pinilla
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Stimmen zu hören sind.
    Die Gelegenheit, sie allein zu befragen, kann ich nicht ungenutzt verstreichen lassen.
    »Ich bin hier, weil ich heute Morgen Ihren Mann in der Hühnerfarm besucht und ihm dort einige Fragen gestellt habe zu dem, was vor zehn Jahren am Strand passiert ist. Das hat auch Sie direkt betroffen. Sie waren mit dem Bruder des Ermordeten verlobt und wollten bald heiraten. Ich warseinerzeit gerade mal sechzehn, deshalb nachträglich mein herzliches Beileid.« Sie nickt verwirrt. »Womöglich fragen Sie sich, warum ich die alte Geschichte jetzt aufs Tapet bringe. Nun, ich will den Mörder finden.«
    Unwillkürlich ist Bidane einen Schritt zurückgewichen, doch ich lasse mich davon nicht bremsen.
    »Ja, ich weiß, Sie fragen sich sicher, warum. Von außen betrachtet ist das auch schwer zu verstehen, weshalb ich Ihnen eine Erklärung schulde. Wissen Sie noch, was ich vorhin gesagt habe? Dass ich im Dienst bin? Damit meine ich, dass ich darüber ein Buch schreiben möchte.« Sie hört sich mein Bekenntnis erstaunlich interessiert an. »Und ich will das nicht nur, ich brauche es geradezu, auch wenn das jetzt vielleicht etwas simpel klingt. Zumindest war das anfangs so. Ich hätte allerdings nie vermutet, dass das Schreiben auch beim Ermitteln hilft und nicht nur umgekehrt. Es ist, als bekämen die Ereignisse dadurch eine Ordnung, einen Sinn, mehr Glaubwürdigkeit, denn wissen Sie was? Das Schreiben schenkt einem ein vollkommen anderes Bild von der Wirklichkeit. So wie die, die mit meinen Fragen hier in der Eisenwarenhandlung entsteht, während Ermo und Ihr Mann noch im Hinterzimmer sind.«
    »Sie sind also von der Polizei. Von Francos Polizei.«
    »Nein, nein! Ich mache das ganz privat. Mitten unter uns lebt ein Mörder, und Getxo muss von ihm befreit werden. Und Sie und Ihr Mann verdienen das am allermeisten.«
    Wir stehen vor dem Ladentisch, zwischen uns zwei Meter Abstand. Bidane Zumalabe zieht ein riesiges, blaues Taschentuch aus ihrer Kitteltasche und tupft sich damit die Augen ab.
    »Wir müssen dieses Unglück vergessen«, sagt sie mit fester Stimme. »Schließlich hat es nur eine einzelne Familie getroffen.Es wäre in Gottes Augen wirklich vermessen, unseren Schmerz über das unsägliche Leid zu stellen, das der Krieg mitsamt seinen Folgen über viele, wenn nicht gar über alle von uns gebracht hat. Wir müssen vergessen, schlichtweg vergessen …«
    »Aber es gibt einen, der vergisst es nicht!«, rufe ich. »Und er trachtet Eladio noch immer nach dem Leben!«
    Das Taschentuch verfehlt die Kitteltasche. Bidane steht die Bestürzung ins Gesicht geschrieben.
    »Er ist in Gefahr?!«
    Oje, ihr Mann hat ihr nichts davon erzählt – wie komme ich jetzt aus dem Schlamassel wieder heraus?
    »Wer es einmal versucht hat, kann es auch ein zweites Mal tun«, versuche ich mich in meiner Not herauszureden und hätte beinahe noch hinzugefügt: Vor allem, wenn er nur die eine Hälfte aus dem Weg geräumt hat.
    »Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Wir alle müssen vergessen … und wir haben es vergessen«, sagt sie mit rauer Stimme.
    »Auch Eladio Altube?«
    »Mein Mann redet nie darüber.«
    »Manchmal können wir über etwas nicht sprechen, weil es einfach zu schrecklich ist.«
    »Mein Mann denkt ganz sicher nicht mehr daran.«
    Ich verstehe, dass sie das zu ihrer eigenen Beruhigung glauben muss. Wenn eine Ehefrau ihren Mann schnarchen hört, dann hört sie auch all die Satzfetzen, die er im Traum von sich gibt und die tiefere Wahrheiten preisgeben. Sie hat gesagt: »Eladio Altube denkt ganz sicher nicht mehr daran«, besser gesagt: »Mein Mann denkt ganz sicher nicht mehr daran.« Ich aber kann beweisen, dass das nicht stimmt: dass jemand ihn ganz bewusst am Vergessen zu hindern versucht.
    Aus dem Hinterzimmer dringen nun keine lauten Stimmenmehr zu uns, sodass ich schon fürchte, die Tür werde jeden Moment aufgehen und unsere Unterhaltung beenden; dabei hätte Bidane mir sicher noch einiges zu erzählen.
    »Wann und wie haben Sie eigentlich von der Tragödie erfahren?«, frage ich deshalb rasch.
    »Lucio Etxe hat mir die Nachricht überbracht, gegen sechs Uhr morgens: ›Du sollst schnell mitkommen. Einer der Zwillinge ist umgekommen, und der andere wartet auf dich.‹ Ich traute mich nicht zu fragen, welcher der beiden noch am Leben war. Und zu dem Zeitpunkt wusste er das auch sicher noch nicht.«
    »Warum nicht?«, frage ich verwundert, verstumme aber sofort. Etxe konnte es tatsächlich noch nicht wissen,

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