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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramiro Pinilla
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Ecke auf Altube warten«, sagt der Angestellte.
    Ich nicke ihm dankbar zu und setze mich auf den einzigen Schemel im Laden. Wieder geht die schrille Glocke, und herein kommt ein Monteur in einem speckigen Blaumann. Augenblicklich taucht Ermos Kopf in der Tür des Hinterzimmers auf; er wirft einen Blick auf den neuen Kunden, verschwindet aber gleich wieder.
    Der Mann braucht sechs Meter Kette. Eine auf einem Ladentisch schwierig zu bändigende Ware. Und laut noch dazu. Der Kunde wählt eine nicht allzu dicke, worauf der Bursche die aufgerollte Schlange ans Ende des Ladentischs schleppt, wo er sie nach dem Abmessen in einen Schraubstockspannt. Dann nimmt er von der Wand hinter sich eine Eisensäge, setzt sie zwischen zwei Kettengliedern an – und plötzlich lässt mich das Quietschen dieser Säge an das misstönende Geräusch denken, das ich damals nicht gehört habe, das niemand in Getxo gehört hat außer den vieren, die in jener Nacht am Strand waren: Antimo Zalla, sein Sohn, Lucio Etxe und Eladio Altube, während ich direkt vor meinen Augen eine ganz ähnliche, vielleicht genauso dicke Kette sehe, wie sie damals um den Hals der Zwillinge gewickelt war. War Joseba Ermo doch der …?
    Beseelt von meinem Gedankenblitz springe ich auf.
    »Habt ihr auch Vorhängeschlösser?«
    Kurz steht die Säge still, und der Bursche und der Monteur starren mich verständnislos an.
    »Natürlich«, antwortet Ermos Angestellter, worauf ich mich wieder auf meinen Schemel sinken lasse, rot vor Scham. Natürlich. Wieso sollte es hier auch keine Schlösser geben? Wie jede Eisenwarenhandlung führt auch diese ein ganzes Sortiment an Ketten und Schlössern – aus dem sich Joseba Ermo, aber selbstverständlich auch jeder andere Einwohner Getxos die Mordinstrumente ausgesucht haben kann … Allerdings würde einer, der einen solchen Mord plant, sich doch sicher nicht ausgerechnet in dieser nahe gelegenen Eisenwarenhandlung damit ausstatten, schließlich will er ja nicht, dass man ihm auf die Spur kommt. Enttäuscht über den Irrweg, lasse ich die Schultern hängen, als mir noch etwas ganz anderes auffällt, was mich augenblicklich wieder aufrichtet: Wieso ist eigentlich Eladio nicht längst aus dem Hinterzimmer nach vorne gestürmt, um dieses Quietschen zu unterbinden, das jetzt den ganzen Laden erfüllt? Seit jener schrecklichen Nacht, in der sein Leben von der Schnelligkeit von Zallas Säge abhing, muss er dieses markdurchdringende Geräusch doch fast täglich in der Eisenwarenhandlunggehört haben. Wie hält er das aus? Warum hat er seinen Anteil am Laden nicht verkauft und das Geld in einen anderen gesteckt, wo man keine Ketten und Schlösser vertreibt?
    Der Bursche ahnt nicht, welche Gedankengänge seine Plackerei wachruft. Wie lange bewegt er die Säge eigentlich schon vor und zurück? Zwei Minuten? Oder schon viel länger? Unvermittelt versuche ich zu schätzen, wie viele Minuten noch fehlen, bis das Kettenglied durchgesägt ist. Wenn man dann noch die Zeit dazurechnet, die Lucio Etxe gebraucht hat, um zur Schmiede zu rennen und mit den beiden Zallas zurückzukommen … Mein Blick wandert hoch zur Uhr, die über der Tür zum Hinterzimmer hängt. Ein bisschen mehr als drei Minuten braucht der Bursche noch, um das Kettenglied ganz durchzusägen: Gut sechs Minuten hat Antimo Zalla demzufolge in jenen frühen Morgenstunden mindestens gesägt. Allerdings stand er unter höchster Nervenanspannung und hatte zudem noch mit den anbrandenden Wellen zu kämpfen … geben wir ihm also eine Viertelstunde zusätzlich aufgrund dieser widrigen Umstände, was einundzwanzig Minuten macht plus die gute halbe Stunde, die Lucio Etxe gebraucht hat, um die Zallas zu holen … insgesamt also beinahe eine Stunde, nicht zu vergessen die Zeit davor, nachdem Eladio Altube wieder zur Besinnung gekommen war und ihre Notlage erkannt hatte, neben ihm sein gegen das Ertrinken ankämpfender Bruder … Wenn man davon ausgeht, dass kein Mensch einen solch langen Todeskampf jemals wieder vergisst – und sollte er unbedingt eine Gedächtnisstütze brauchen, so erinnert ihn doch spätestens das Quietschen der Säge daran –: Warum ist Eladio Altube dann nicht schon längst panisch aus dem Laden gerannt, die Hände auf beiden Ohren?
    In dem Moment, als der Bursche sich nach vollbrachterTat aufrichtet, vielleicht den Bruchteil einer Sekunde davor, fällt etwas neben ihm mit einem charakteristischen Klirren zu Boden: ein Stück Eisen, besser gesagt, die beiden Hälften des

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