Nur Ein Toter Mehr
realistischen Roman verschrieben habe.
»Sie haben mir keinen Knochen gebrochen«, beruhige ich Koldobike.
»Woher willst du das wissen?«
»Ganz einfach: Ich hab’s nicht knacken gehört. Die drei verstehen was vom Prügeln.«
»Dein Gesicht sieht dafür aber aus wie nach einer Schlacht.« Koldobike sieht besorgt auf die Verbände. »Wie lange dauert das noch?«
»Ja, wie lange dauert das noch?«, echot Luciano, der allerdings was ganz anderes wissen will.
Wer das Sagen hat, kann auch bestimmen, wann seine Geduldein Ende hat. Ich versuche meine Augen fest auf ihn zu richten, was mir aber nicht gelingen will; ich sehe ihn nur noch verschwommen.
»Man schreibt einfach nur das, was man gerade sieht und hört. Das ist das ganze Rezept.«
Luciano sieht mich mit großen Augen an.
»So was machen ein Fotoapparat und ein Aufnahmegerät!«
Ohne darauf einzugehen, doziere ich weiter: »Der Autor muss sich vollkommen zurücknehmen. Wenn man eine Geschichte erzählen will, muss man sich ganz auf die Außenwelt konzentrieren, in der allein das, was die Protagonisten sagen und tun, maßgebend ist. Und das ist das, was ein Dichter normalerweise nicht kann: sein eigenes Ich hintanzustellen. Weil es nicht seiner Wesensart entspricht.«
»Das heißt also Selbstbescheidung und Zurückhaltung.«
»Und ein Quäntchen Fantasie ist auch vonnöten.«
Luciano schüttelt ungläubig den Kopf. »Wozu braucht es beim Realismus Fantasie?«
»Langsam …«, stöhne ich, denn ob ich diese Gabe besitze, weiß ich selbst nicht so genau, weshalb ich es jetzt, da sich mein Kopf wie ein Fußball anfühlt, gegen den zweiundzwanzig Kicker eines Spiels auf einmal treten, auch nicht recht erklären kann.
»Fantasie braucht man, um … um aus der Wirklichkeit eine andere Wirklichkeit zu machen … aber auch, um in der letztlich gewählten Wirklichkeit die passenden Szenen und Töne zu finden.«
»Hor konpon«,
murmelt Koldobike spöttisch. Dass genau das mein Problem ist, dass diese Erzähltheorie mir nie genützt hat, weiß sie besser als jeder andere.
»
Was
hast du gesagt?«
Sichtlich ungehalten dreht Luciano sich zu ihr um. DochKoldobike übersetzt es ihm nicht, sie zeigt ihm die kalte Schulter, steht auf und tritt zu mir, um den Verband an meiner Stirn zu wechseln, der anscheinend gerade durchblutet.
»Hattest du dir eine Wirklichkeit ausgesucht?«, versuche ich ihn schnell abzulenken, was mir einen heftigen Stich in der Schläfe beschert.
»Ich habe das, was ich erzählen wollte, sowohl in der Zeit vor, während als auch nach dem Krieg angesiedelt. Wenn das keine Wirklichkeiten sind, weiß ich auch nicht. Aber die Romane sind mir trotzdem nicht geglückt.«
»Weil du sie wahrscheinlich wie ein Dichter angegangen hast.«
Luciano schnaubt. »Die Essenz der Falange, die soziale Revolution, unser Kampf gegen den Marxismus, die Berufung eines
Caudillo,
der ein einziges, großes und freies Spanien errichten will, sind nun mal reine Poesie. Genauso wie unsere Hymnen, die zu großen Taten ermuntern wie etwa, uns mit entblößter Brust auf die marxistischen Horden zu stürzen und für Spanien in den Tod zu ziehen! Das ist Poesie, die reine Poesie!«
Koldobikes Finger trommeln auf meinem Schädel; sie muss ihn mit der Trommel für eine Militärparade verwechseln.
»So viel … Poesie … bringt einen Prosatext leider … durcheinander«, wende ich vorsichtig ein.
»Poesie bringt nichts durcheinander!«, entgegnet Luciano entrüstet.
Ich widerspreche ihm nicht, denn das Reden fällt mir immer schwerer. Auch er schweigt eine Weile. Dann scheint er sich aber innerlich einen Ruck zu geben.
»1938 setzte ich mich zum ersten Mal hin. Es sollte ein kurzer Roman werden, zwölf bis fünfzehn Kapitel, mit nurwenig Dialog und viel Reflexion. Die Protagonisten sollten ein Falangist und seine erste Freundin sein, die Tochter eines Roten, der in einem von Francos Gefängnissen erschossen worden war. Sie selbst hatte die gleiche Gesinnung wie ihr Vater, war aber betörend schön. Diese Liebe scheitert natürlich, weil sie von ihm verlangt, auf seine eigenen Leute ein Attentat zu verüben. Worauf er beschließt, sich in ein rechtschaffenes Mädchen aus der
Sección Femenina
zu verlieben …« Kurz hält er inne, bevor er seufzend gesteht: »Allein für diese Überlegungen habe ich schon Monate gebraucht, ohne auch nur einzige Zeile zu Papier zu bringen.«
»Typischer Fall von Schreibblockade.«
»Eine Schreibblockade? Beim Dichten ist mir so was
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