Nur Ein Toter Mehr
noch nie passiert: Ich habe eine Inspiration, und fünf Minuten später steht der erste Vers auf dem Papier … Aber gut, ein Roman ist etwas anderes. Ja, das mit der Schreibblockade kann gut sein … Als ich mich schließlich dann doch hinsetzte, entwickelte sich die Geschichte jedoch in eine völlig andere Richtung. Der Falangist, der bereits in unserem Krieg gekämpft hatte, wollte auch dazu beitragen, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, weshalb ihm Francos
División Azul
wie gerufen kam, mit der unser
Caudillo
die Deutschen an der russischen Front unterstützte. Nachdem er sich gemeldet hatte, sollte er als Erstes noch weitere Freiwillige anwerben. Bei nächtlichen Saufgelagen verleitete er junge Männer mit ruhmreichen Geschichten dazu, zu fortgeschrittener Stunde das Papier zu unterschreiben … Dieser erste Teil ist mir sogar einigermaßen gelungen; schwierig wurde es dann aber, als ich erzählen wollte, wie es unserem Helden in Russland erging, als einem der vierzigtausend Soldaten der glorreichen Division. Da wusste ich einfach nicht mehr weiter, bis heute. Und das verstehe ich nicht, da der Anfang doch so vielversprechend war…«
»Du musst einfach auf deine persönlichen Erlebnisse an der russischen Front zurückgreifen«, rate ich ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht; die Betäubung durch den Schock scheint nachzulassen.
»Das geht nicht: Ich war nicht in Russland.«
»Wer hätte das gedacht«, murmelt Koldobike sarkastisch.
»Tja, ohne Wirklichkeit …«, erkläre ich bedauernd, denn genau das ist auch für mich die Schwierigkeit: sich etwas einfach nicht gut genug vorstellen zu können. An einem Mangel an Fantasie können die Guten wie auch die Bösen leiden.
»Trotzdem hatte ich mich dadurch nicht entmutigen lassen und die Feder erneut zur Hand genommen«, fährt Luciano mit düsterer Miene fort. »Und dann steuerte mein Roman ganz auf den Abgrund zu: Die glorreichen Heldentaten der
División Azul
verkümmerten zu lyrischen Schwärmereien von schneebedeckten Steppen, vor Kälte starren Uniformen, undurchdringlichen Gesichtern unter mit Eiszapfen besetzten Ledermützen und der Sehnsucht nach farbenfrohen Frühlingswiesen. Und Joch, Pfeilbündel und Abendsterne kamen natürlich auch drin vor.« Gramerfüllt steht er auf und legt mir die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid wegen der Prügel, Bordaberri. Auch wenn du es leichter hast, weil du kein Dichter bist, hast du echt Schneid.«
»Schreib das ja auf, Sam«, sagt Koldobike.
»Wie …?« Luciano stutzt kurz. »Ach so, natürlich. Du beschreibst ja nicht nur die Wirklichkeit, du lebst sie auch. Hand aufs Herz, Buchhändler: Schreibst du wirklich alles auf?«
»Alles«, erklärt Koldobike.
»Das heißt auch, dass wir dich vermöbelt, du und ich danach aber freundschaftlich über unsere Erfahrungen debattiert haben?«
»In Sam Espartas Roman kommt restlos alles rein«, versichert Koldobike wieder an meiner statt.
Da macht Luciano einen Schritt auf sie zu, um nach ihren platinblonden Locken zu greifen, was sie mit einem energischen Klaps auf seine Finger unterbindet. So bleibt ihm nur, auf ihren Rock zu zeigen und mit einem Glitzern in den Augen auszurufen:
»So was Gewagtes hat man in Getxo noch nie gesehen. Und zudem nennt sich unser Buchhändler jetzt Samuel Esparta und hat sich in den Kopf gesetzt, aus einem wahren Fall einen Kriminalroman zu drechseln. Der unbestechliche Privatdetektiv mit seiner ihm treu ergebenen Sekretärin: Das hast du dir wirklich fein ausgedacht, Bordaberri, das ist große realistische Literatur. Da kann ich mit meiner Lyrik einpacken!«
10 Ein Gesicht in der Dunkelheit
Es ist schon dunkel, als Koldobike und ich bei mir zu Hause ankommen. Für die Strecke, die ich üblicherweise in wenigen Minuten zurücklege, habe ich, von Koldobike gestützt, bestimmt mehr als das Doppelte gebraucht. Leise stöhnend lasse ich mich auf die unterste Stufe der Treppe sinken, während sie hochgeht, um ihren Plan in die Wege zu leiten.
Koldobike kommt nicht allein zurück, aber Elise stöhnt bei meinem Anblick zum Glück nicht laut auf. Meine Schwester ist eine unerschrockene Frau, wie sich schon zeigte, als die deutschen Junker über unsere Köpfe hinwegflogen, um Bilbao, seinen Flughafen Sondika und die Industrieanlagen in der Bucht zu bombardieren; manchmal warfen sie auch schon eine zur Übung über Getxo ab. Seit dem Tod unseres Vaters ist sie für meine Mutter und mich der Fels in der Brandung.
»Du hast recht«, sagt sie zu
Weitere Kostenlose Bücher