Nur Ein Toter Mehr
wenn Lucio Etxe mehr Zeit gebraucht hätte als gedacht«, erklärt Don Manuel so euphorisch wie ein Wissenschaftler, der zum ersten Mal eine große Entdeckung der Öffentlichkeit präsentiert. »Die Brüder hatten wirklich alles genau geplant, mit demselben Eifer, mit dem sie auch ihre krummen Geschäfte ausheckten. Die Achse, um die sich alles drehte, war Etxe und seine liebe alte Gewohnheit, morgens um fünf an den Strand zu gehen. Die Zwillinge müssen Tage, ja Wochen damit zugebracht haben, die Zeitspannen auszurechnen.«
»Welche Zeitspannen?«, frage ich und kann ein Schmunzeln nicht verbergen, voller Neugier, wie weit diese Verstiegenheit ginge.
»Im Prinzip sind es zwei: die Zeit vor und die nach fünf … Das heißt, eigentlich mussten sie rückwärts rechnen, angefangen damit, wie lange es dauern würde, bis Etxe mit Zalla zurückkommt. Sechzig Minuten? Dazu mussten sie dann die Minuten addieren, die der Schmied brauchen würde, um die Ketten durchzusägen. Fünfzehn, zwanzig, wenn man die anbrandenden Wellen bedenkt? Macht summa summarum fünfundsiebzig bis achtzig Minuten … Und dazu kam dann noch die Zeit – diesmal von fünf Uhr zurückgerechnet –, die es dauern würde, bis die ansteigende Flut gerade knapp ihreHälse erreicht hätte. Und bei dieser Rechnung ist dann wohl irgendwas schiefgelaufen.«
»Und für diesen Hergang braucht’s keinen Täter.«
»Ja, genau. Nur hast du damit leider kein krimiwürdiges Ende für deinen Roman.«
»Na ja, vielleicht könnte ich Eladio Altube am Schluss ja wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht bringen … vorausgesetzt, es gibt diesen Tatbestand in Francos Strafgesetzbuch – was ich allerdings sehr bezweifle.«
»Du zweifelst zu Recht: Das Delikt gibt es nicht. Bis heute gilt noch immer das Kriegsrecht, weshalb die Gewinner fröhlich und ungehindert drauflostöten, während man die Verlierer nach wie vor standrechtlich zum Tode verurteilt.« Traurig seufzt Don Manuel, dann erhellt sich seine Miene aber wieder ein wenig. »Immerhin hat dein Roman dafür ein befriedigendes Ende: Er beweist, dass wir Basken keine Mörder sind.«
Stolz auf die in seinen Augen gelungene Gehirnakrobatik schaut er mich an, dass es mir fast leidtut, sein abstruses Gedankengebäude zum Einsturz bringen zu müssen.
»Danach gab es aber noch zwei weitere Versuche, Eladio Altube zu ermorden.«
Schmollend schiebt Don Manuel die Unterlippe vor und nimmt dann seine Baskenmütze ab, um irgendwelchen imaginären Staub wegzupusten. Obwohl er vielleicht gerade mal die fünfzig überschritten hat, sind seine Haare schon ziemlich grau.
»Wie ich sehe, nimmst du das mit deinem Roman sehr ernst, und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass du ihn zu einem guten Ende bringst, wie immer die Geschichte letztlich auch ausgehen mag … Es ist fast so, als würde ich einem ehemaligen Schüler ein besonders schwieriges Aufsatzthema aufgeben«, sagt Don Manuel mit einem Lächelnund setzt sich dann behände wieder die Baskenmütze auf.
Vor meinem allerheiligsten Regal bleibt er noch einmal stehen. Mit dem Finger fährt er die Buchrücken entlang.
»Deine Idole haben sich nicht so viel getraut wie du, Sancho. Sie bildeten die Wirklichkeit nach, die sie vor ihren Augen hatten, du aber machst sie dir untertan. Wie fühlt sich das an, wenn man mit seiner Feder Wort für Wort das wirkliche Leben einfängt? Es gibt Bücher, die hauen einen um, und ich bin mir sicher, deines wird auch so eines sein …«
»Was halten Sie von Samuel Esparta?«
»Für einen Roman über Getxo tausendmal besser als Sam Spade.« Zufrieden lächelnd dreht Don Manuel sich zu mir um. »Schön wäre es, wenn du allerdings auch noch den Spruch ›Kleider machen Leute‹ beherzigen würdest: Charakteristisch für uns sind nicht Hut und Anzug, sondern Baskenmützen und Holzpantinen.«
Sein Gesicht wird wieder ernst, als er drei Schritte auf mich zugeht.
»Aber schlag dennoch meine Hypothese zu dem Geschehen von vor zehn Jahren nicht in den Wind. Glaub mir, das war der brillante Plan der beiden, eine runde Sache – der sich wegen eines kleinen Fehlers im zeitlichen Ablauf dummerweise gegen Leonardo gewendet hat. Ich kann mir kaum vorstellen, dass dein Roman ein anderes Ende haben kann.«
Mit gebeugtem Rücken geht er zur Tür, und zusammen mit dem Ding-Dong des Glöckchens höre ich noch seine Abschiedsworte:
»Solltest du in deiner Geschichte stecken bleiben, kann dein alter Lehrer leider wenig für dich tun. Er ist
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