Nur Ein Toter Mehr
geworden?« Plötzlich macht er ein betretenes Gesicht. »Mein Gott! Bin ich etwa schuld, dass …? Sicher habe ich dir unrecht getan. Weißt du, ich habe immer gehofft, dass mein ehemaliger Schüler mir ein neues Manuskript bringt. Aber du bist danach nie wiedergekommen.«
»Ich habe insgesamt sechzehn Romane geschrieben. Sie sind von den Verlagen allesamt abgelehnt worden.«
»Oh, das tut mir leid. Das muss ziemlich hart sein.« Das Veilchen und die Schrammen in meinem Gesicht können ihm nicht entgangen sein, aber erst jetzt befühlt er sie vorsichtig mit den Fingern. »Jetzt schreibst du also einen auf wahren Begebenheiten beruhenden Kriminalroman: Setzt du dich damit nicht ein bisschen arg in die Nesseln?«
»Ich bin kein talentierter Autor, Don Manuel, sondern ein jämmerlicher Stümper. Ich muss die Szenen erst durchleben, mit allen denkbaren Konsequenzen, damit ich sie schreiben kann. Keine Ahnung, ob ich so auf einen grünen Zweig komme, aber anders geht es wohl nicht. Immerhin werde ich hinterher meine Hand dafür ins Feuer legen können, dass alles, was ich geschrieben habe, so auch wirklich passieren kann – denn ich habe es ja tatsächlich erlebt.«
Don Manuel hat es die Sprache verschlagen. Noch einmal holt er sein Taschentuch heraus, schnäuzt sich und hustet.
»Ein guter Schriftsteller braucht nun mal viel Vorstellungskraft, das heißt, die Fähigkeit, sich auf fantasievolle Weise ein Bild von der Wirklichkeit machen zu können«, fahre ich eifrig fort. »Und da ich davon nicht viel besitze, muss ich mich eben mit einem Umweg behelfen und alles erst selbst durchle…«
»Jaja, Sancho«, fällt Don Manuel mir auf einmal ins Wort, »ich bin ganz deiner Meinung, und die Literatur ist wirklich ein weites Feld … Aber zurück zu deinen Ermittlungen, hör zu: Ich will dir den Spaß daran nicht verderben, aber du musst wissen, dass mich seit Jahren ein Gedanke umtreibt, besser gesagt, seit exakt zehn Jahren, seit diese Sache am Strand passiert ist, die alle in unserem Ort, ach, was sage ich, unser ganzes Volk verstört hat.« Ist seine Stimme immer leiser geworden, weil er sich seines patriotischen Ausrutschersschämt? Nein, sicher nicht. »Sancho, ich glaube, es gibt keinen Mörder, die beiden haben sich nur in der Zeit verschätzt.«
»Wie?« Ich mache große Augen. »Das verstehe ich nicht.«
»Ich denke, die Zwillinge haben das selbst eingefädelt. Sie wollten vor uns als Opfer dastehen, um uns milde zu stimmen. Weil sie merkten, dass sie mit ihren jahrelangen Gaunereien den Bogen überspannt hatten und wir in Getxo uns das nicht mehr länger gefallen lassen und womöglich den Spieß umkehren würden.«
Das ist so ungefähr das Letzte, was ich erwartet hätte, weshalb ich auch das Einzige sage, was mir zu so einem Unsinn einfällt:
»Sie … Sie wollen diese Untat in einen tragischen Unfall umdeuten?« Entrüstet schüttele ich den Kopf. »Nein, Don Manuel, manchmal muss man Dinge einfach so akzeptieren, wie sie sind, ob einem das nun gefällt oder nicht.«
»Ich weiß, das ist schwer zu glauben, Sancho, ich habe auch eine Weile dafür gebraucht. Aber nur sie selbst konnten so etwas aushecken. Und es war ein so teuflischer Plan, dass er schiefgegangen ist: Irgendeine Schwachstelle hat jede noch so ausgetüftelte Konstruktion, denn die Launen von Natur und Mensch lassen sich nun mal nicht berechnen.« Don Manuel kommt jetzt richtig in Fahrt. »Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, zehn Jahre lang. Also, zuerst einmal musst du wissen, dass die Altube-Brüder bei all ihren unlauteren Machenschaften immer äußerst dilettantisch vorgegangen sind, auch wenn sie sich dann immer irgendwie durchlaviert haben. Ihr Plan hingegen, unsere Herzen zu erweichen, war alles andere als stümperhaft: Sie würden sich selbst an den Felsen ketten, damit sie jemand im letzten Moment retten könnte. Und wer kommt dir zu der fraglichen Zeit dafür in den Sinn, Sancho? Na, wer kommtjeden Tag als Erster an den Strand, und – und das ist entscheidend – immer um dieselbe Uhrzeit? … Lucio Etxe! Eladio und Leonardo wollten ihn mit ihren Verzweiflungsschreien auf sich aufmerksam machen, damit er zu ihnen eilt, dort aber vergeblich an den Ketten zerrt und deshalb hoch zu den Zallas rennen muss, die sie retten sollten – was allerdings nur zur Hälfte gelang.«
»Das alles ist sattsam bekannt.«
»Ein wenig später, und sie wären beide tot gewesen.«
»Wie später? Worauf wollen Sie hinaus?«
»Na ja,
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