Nur eine Ohrfeige (German Edition)
die so lange ihr Leben bestimmt hatten, einen Sinn gegeben. Als sie Hugo bekam, hatte sie ihren Frieden gefunden. Sie zog an der Zigarette und fischte ein paar Tabakfäden zwischen den Zähnen heraus. Es war ein selten zärtlicher Moment, und sie hätte ihn gern genutzt, um ihm zu sagen: Gary, bitte schenk mir noch ein Kind. Aber sie verkniff es sich, er würde sowieso nur wütend werden und sich zurückziehen. Sie hatte Angst vor dem nächsten Jahr, wenn Hugo in den Kindergarten kam und sie wieder allein war. Gary sah es als Chance. Vielleicht fand sie einen Job, und er konnte weniger arbeiten und sich wieder mehr seiner Kunst widmen. Seiner nutzlosen Malerei. Nächstes Jahr würden sie beide arbeiten müssen, um auf ein Haus zu sparen. Sie brauchten mehr Geld.
»Ich gehe ins Bett«, murmelte Gary. »Hugo schläft. Kommst du auch?«
»Gleich.«
Er küsste sie auf den Mund. Als sie ihn ins Schlafzimmer gehen hörte, atmete sie erleichtert auf.
Sie starrte das Telefon an. Du irrst dich, sagte sie in Gedanken zu ihrer Mutter. Ich bin eine gute Mutter. Jawohl, das bin ich.
Nichts von dem, was ihre Freundinnen ihr erzählt hatten, konnte sie auf das schockierende Erlebnis der Geburt vorbereiten. Sie hatte sich so lange vorgestellt, wie es sein würde, ein Kind zu bekommen – hatte Gary bedrängt, gestichelt, angefleht, gelockt, gedroht, damit er ihrem Wunsch zustimmte –, dabei aber nie daran gedacht, es könne schrecklich für sie sein. Die Schwangerschaft hatte sie genossen, sie war fasziniert davon gewesen, wie sich ihr Körper veränderte, wie unabhängig er von ihr war. Sie fand es toll, dass sie plötzlich anders roch und anders aussah. Statt knochig und knabenhaft war sie auf einmal weich und feminin. Aber die Geburt hatte sie auf sich selbst zurückgeworfen. Das einzige Wort dafür war: Hölle. Wenn die Schwangerschaft eine Flucht vor sich selbst in ihren Körper bedeutet hatte, waren die Wehen eine Wiedergeburt gewesen, bei der sie mit ihrer Falschheit, ihrer Hässlichkeit und ihrem Selbsthass konfrontiert worden war. Sie war überzeugt von der Heiligkeit einer Hausgeburt und der natürlichen Entbindung. Als es dann allerdings losging, wurde ihr sofort bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte – doch da war es bereits zu spät, um nach Drogen zu fragen. Die Erinnerung an den eigentlichen Vorgang war, zum Glück, so gut wie verblasst: verschwommene Bilder eines halluzinogenen Albtraums. Aber woran sie sich lebhaft erinnerte und was sie nie vergessen würde, war, dass sie sich in dem Moment, als man das Kind aus ihr herauszog, gewünscht hatte, man würde es von ihr wegbringen.
Die ersten sechs Monate zitterte sie jedes Mal vor Schrecken, wenn sie Hugo hielt. Sie hatte Angst, ihn irgendwann umzubringen. Jedes Mal, wenn er weinte, merkte sie, wie sie sich noch mehr von ihm entfernte. Er war ein außerirdisches Wesen, er würde sie zerstören.
In diesen sechs Monaten war sie auch weiterhin zum Yoga gegangen, hatte sich regelmäßig mit Anouk und Aisha treffen wollen,hatte schlafen, trinken, Drogen nehmen, Sex haben, hatte jung sein wollen. Sie wollte keine Mutter sein. Es hatte sich angefühlt, als bräche sie entzwei, als wäre sie nicht länger Rosie, sondern eine seltsame Bestie, die keine Liebe für ein Kind empfinden konnte, das sie selbst in die Welt gesetzt hatte. Mein Gott, sie durfte gar nicht daran denken, wie sie den Jungen gehasst hatte. Nicht mal seinen Namen hatte sie aussprechen können. Sie misstraute ihm, hatte Angst vor ihm. Wahrscheinlich war sie verrückt geworden, anders konnte sie es sich nicht erklären, das unkontrollierte Schluchzen, ihre Fantasien, in denen sie ihn in der Badewanne ertränkte oder ihm das Genick brach.
Sechs Monate lang war sie wie von Sinnen gewesen, und während der ganzen Zeit hatte sie mit niemandem darüber gesprochen – weder mit ihrem Mann noch mit Aisha, der Müttergruppe, ihrer Familie oder sonst irgendwem. Sie hatte sich nicht getraut. Sie hatte gelächelt und so getan, als liebe sie ihr Kind. Dann, eines Morgens, hatte sie vergeblich versucht, zum Yoga zu kommen. Das Baby brüllte und weinte unaufhörlich. Sie stillte es, sang ihm vor und schrie es an, aber das schreckliche Geplärre nahm kein Ende. Irgendwann überkam sie eine seltsame Ruhe. Sollte es doch schreien, sie würde es einfach allein zu Hause lassen, in ihrer beschissenen Einzimmerbude in Richmond, sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Sie stand vor der Tür, die Schlüssel in
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