Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nur eine Ohrfeige (German Edition)

Nur eine Ohrfeige (German Edition)

Titel: Nur eine Ohrfeige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christos Tsiolkas
Vom Netzwerk:
ebenfalls verschleiert, hielt einen Jungen fest umschlungen, dessen Haare grell orange gefärbt waren. Als sie Manolis’ Blick bemerkte, löste sie sich von ihrem Freund, der ihn erst ängstlich, dann böse anstarrte.
    »Scheiße, Mann, was willst du?«
    Das Mädchen kicherte und schmiegte sich wieder an ihn. Er sah so jung aus, sein sommersprossiges Gesicht war weich und glatt und trug noch die letzten Spuren der Kindheit.
    Manolis schüttelte den Kopf und ging weiter. Wie sprachen diese Kinder mit ihm? Es war nicht ihre Schuld. Um diese Uhrzeit trieb sich nun mal kein anständiger Mensch mehr herum.
    Als das andere Mädchen ihn weggehen sah, zischte sie: »Lasst ihn zufrieden. Es ist doch nur ein alter Mann.«
    Es stimmte. Er war nur ein alter Mann. Kein Vater, keine Mutter, denen man nicht begegnen durfte, kein Onkel, vor dem man Angst haben musste, kein älterer Bruder, vor dem man wegrennen musste. Er schmunzelte. Der Junge hatte sich fast in die Hosen gemacht, wahrscheinlich dachte er, Manolis sei der Vater des Mädchens. Er setzte sich auf die leere Bank am Ende des Bahnsteigs. Es roch nach Zigarettenqualm, die Jugendlichen im Aufenthaltsraum rauchten. Er selbst rauchte seit zwanzig Jahren nicht mehr, aberdies war einer der Momente, in denen er es vermisste. Warten zu müssen, weckte in ihm den Wunsch nach einer Zigarette.
     
    In North Richmond stieg er aus. Er hatte keinen Plan, er wusste nur, dass er nicht nach Hause wollte. Er lief durch die Victoria Street. Dieser Abschnitt war offenbar fest in der Hand asiatischer Restaurants. Früher hatte er den Griechen gehört. Er ging die enge Straße hinunter, ohne die asiatischen Teenager und die vietnamesischen Frauen mit ihren Einkaufswagen wahrzunehmen. Er fühlte sich in eine andere Zeit zurückversetzt. Er kam an der Fleischerei eines Typen aus Samos vorbei, dem Fish-and-Chips-Shop eines Paares aus Agrinio und dem Café, wo er in jungen Jahren so viel Zeit mit Thimios und Thanassis verbracht hatte. Er seufzte gerührt. Er erinnerte sich an den Abend, als er sein gesamtes Gehalt verspielt hatte. Koula hatte ihn aus dem Haus und bis in die Bridge Road gejagt und ihn einen Taugenichts, einen Esel, einen jämmerlichen Waschlappen genannt. Die Nachbarn waren aus ihren Häusern gestürmt und hatten sie angefeuert, die Männer Manolis, die Frauen Koula.
    An einer Ampel blieb er stehen, eine junge Australierin, die einen Ring in der Nase hatte und einen Kinderwagen schob, musterte ihn irritiert. Er nickte ihr zu, worauf sie mit einem zaghaften Lächeln reagierte. Eine Straße weiter war die Fabrik, in der er früher gearbeitet hatte. Dort stand jetzt ein Wohnblock. Und da war auch das Haus, in dem Ecttora und Elisavet die griechische Schule besucht hatten. Auf der Eingangstür klebte ein Vote-Green-Sticker. Er bog in die Kent Street ein.
    Vor Dimitris Haus blieb er stehen. Die anderen Häuser waren alle renoviert worden, die Fassaden sahen so sauber aus, als hätte noch nie jemand darin gewohnt. Im Vorgarten wuchsen junge Bohnen an ihren zarten Stengeln, daneben die dicken Blätter von Spinat und Mangold. Es roch nach Frühling. Zwei zerrissene Plastiktüten waren an einem dünnen Stab festgebunden, um die Vögel zu verscheuchen. Ein Feigenbaum ragte neben dem Haus empor. Manolis zögerte. Spielte sein Verstand ihm einen Streich? DiesesHaus, dieser Garten gehörten doch der Vergangenheit an, oder? War dieses Tor wirklich da? Würde die Tür verschwinden, sobald er dagegen klopfte? Sie konnten unmöglich noch hier leben. Sie mussten doch, wie alle anderen auch, die Stadt verlassen haben und irgendwo weit draußen ans Ende von Melbournes scheinbar endlosen Hauptverkehrsadern gezogen sein. Als er das Tor aufschob, schabte das rostige Eisen über den Stein. Das Quietschen war echt. Er klopfte an die Tür.
    »Wer ist da?«, fragte eine alte Frau mit Akzent.
    Er rief seinen Namen, brüllte ihn fast. Nach einer kurzen Pause flog die Tür auf. Es war Georgia. Sie trug Schwarz, ihr kurzgeschnittenes Haar war silbergrau. Aber sie war es. Sie stand vor ihm und kniff die Augen zusammen. Er war sicher, dass sie dasselbe dachten: Oh, was sind wir alt geworden.
    Ihr Kuss war zurückhaltend, aber herzlich. »Komm rein, mein Manoli, komm herein.«
    Es war tatsächlich eine Reise in die Vergangenheit. Im Haus roch es nach Essen, nach Erde, nach Fleisch und Schweiß. Der dunkle, enge Flur war vollgestopft mit Schränkchen und Kommoden, sodass er sich an der Wand entlangquetschen

Weitere Kostenlose Bücher