Nur eine Ohrfeige (German Edition)
Staunen die Männer die ungeheure Pracht bewunderten, die goldene Statue der Pallas Athene, die über der Stadt emporragte, den Parthenon auf dem Klippenrand, die Dächer des Sommerpalastes dahinter. Die Regimenter des Kaisers warteten hinter den Hafenmauern, bereit, die Europäer mit ihren Schwertern und Lanzen zu empfangen. Ihr Aufeinandertreffen sollte die Weltgeschichte prägen.
Richie hörte auf zu schreiben. Er blätterte ein paar Seiten zurück, betrachtete seine Zeichnung von Grigorowitsch D’Estaing und zog die Umrisse seines Gesichts nach. Er drehte die Musik lauter und ließ den Stift zu Boden fallen. Das Handgelenk tat ihm weh. Die Zeichnung war gar nicht schlecht, vor allem die Schattierung von D’Estaings kupfernem Brustharnisch, auf der ein Drache abgebildet war, der mit einem Phönix kämpfte, abgemalt von einer Fantasy-Seite aus dem Internet. Er klappte das Buch zu, legte sich aufs Bett und drehte die Lautstärke voll auf, bis sein Trommelfell vibrierte. Als die CD zu Ende war, nahm er den Kopfhörer ab und schlug das dritte Notizbuch auf. Ganz hinten klebte eine kleine Plastiktasche, in der sich diverse ihm wichtige Erinnerungsstücke befanden: ein Foto von Nick auf Jennas Party, als er betrunken den Arm um ihn gelegt hatte; ein Streifen Passbilder mit Connie aus dem Fotoautomaten im Northland-Center, Wange an Wange, hysterisch grinsend; die Postkarten von seinem Vater und seiner Oma; das Ticket vom Pearl-Jam-Konzert, zu dem ihn seine Mutter an seinem dreizehnten Geburtstag mitgenommen hatte. Und dann, ganz zum Schluss, eine Kopie des Fotos, das er bei Rosie und Gary gestohlen hatte: der junge Hector vor türkisblauem Himmel, sein nackter Oberkörper vom Meer noch nass, das Profil gelassen und mit heroischem Blick der Sonne zugewandt. Das war sein Vorbild für Grigorowitsch D’Estaing. Die Fotokopie war zerknittert und anden Rändern eingerissen. Richie musste vorsichtiger damit umgehen. Er hielt sie hoch und stellte sich vor, der Mann auf dem Foto würde den Blick vom Meer abwenden, ihn ansehen und die Lippen öffnen. Richie schloss die Augen und nahm seinen Schwanz in die Hand.
Er hatte seine Mutter gebeten, ihn um sieben zu wecken, und jetzt drang ihre Stimme in seinen Schlaf wie Fingernägel, die quietschend über eine Tafel fahren. Er stöhnte und versuchte, sich wieder in den Schlaf zu wiegen. Offenbar mit Erfolg, denn kurz darauf weckte ihn seine Mutter ein zweites Mal, indem sie direkt neben seinem Ohr in die Hände klatschte. Er schoss aus dem Bett. Seine Mutter lachte.
»Wie spät ist es?«
»Viertel nach sieben«, rief sie ihm über die Schulter zu. »Und wenn du um halb acht nicht aus der Dusche raus und angezogen bist, fahre ich dich nicht ins Schwimmbad.«
Viertel nach sieben. Das fühlte sich an wie ein Schultag. Wie früher. Seitdem die Schule vorbei war, stand er frühestens um zehn auf, meistens sogar erst gegen zwölf. Die beiden Schichten im Supermarkt hatte er nachmittags und abends, obwohl Zoran, sein Abteilungsleiter, schon gedroht hatte, nach den Schulferien auch Frühschichten zu verteilen. Richie liebte es, ausschlafen zu können, vor allem, nachdem ihm bewusst geworden war, dass dies wahrscheinlich die letzte Gelegenheit war, weil schon bald Studium und Arbeit sein Leben wieder dem Diktat der Uhr unterwerfen würden. Viertel nach sieben. Er rannte in Unterhose ins Bad, duschte sich kurz ab und putzte sich die Zähne. Die Trockenzeit brachte gewisse Einschränkungen mit sich. Normalerweise stand er eine Ewigkeit unter der Dusche und ignorierte die Tiraden seiner Mutter zum Thema Wasserverschwendung. Er putzte sich in Ruhe die Zähne, rasierte sich wenn nötig – nach wie vor höchstens einmal die Woche – und holte sich meistens noch einen runter. Das war erst mal vorbei.
Seine Mutter saß schon im Wagen. Ein paar Minuten später hielten sie vor dem YMCA. »Danke, Mum«, rief er und schlug die Tür zu. Sie hupte, und er winkte, ohne sich umzudrehen.
Bei Hugo musste er erst um halb zehn sein, und er wollte vorher unbedingt noch mindestens vierzig Minuten schwimmen. Zum Ende der Schulzeit hatte Richie beschlossen, seinen Körper auf Vordermann zu bringen. Irgendwann würde er ins Fitnesscenter gehen, so wie Nick und Ali, aber noch war er nicht bereit dafür. Er war nie besonders gut in Sport gewesen. Irgendwie war er zu hager und auch zu schwach.
Während er sich umzog, dachte er an sein Geburtstagsgeschenk. Ein iPod. Wahnsinn. Das würde den Gang ins
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