Nur einen Tag noch
wie es die meisten Jungen tun, die sie gleichzeitig als gegeben hinnehmen. Es fiel mir auch leicht bei ihr, denn sie war witzig. Sie schmierte sich mir nichts, dir nichts Eiscreme ins Gesicht, um mich zum Lachen zu bringen. Oder sie imitierte Stimmen, zum Beispiel Popeye, oder krächzte wie Louis Armstrong »If ya ain’t got it in ya, ya can’t blow it out«. Sie kitzelte mich, und ich durfte sie auch am Rücken kitzeln, wobei sie immer die Ellbogen an sich drückte. Jeden Abend schaute sie nach mir, wenn ich im Bett lag, strich mir durch die Haare und sagte: »Gib deiner Mama einen Kuss.« Sie sagte mir, ich sei klug, was etwas ganz Besonderes sei, und sie bestand darauf, dass ich jede Woche ein Buch las, und nahm mich mit in die Bücherei. Manchmal war sie zu auffällig gekleidet, und sie sang immer jedes Lied im Radio mit, was ich auch peinlich fand. Aber es gab nicht einen Moment, in dem ich ihr nicht vertraut hätte.
Wenn meine Mutter etwas sagte, glaubte ich ihr aufs Wort.
Das Leben mit ihr war keineswegs ein Zuckerschlecken, möchte ich klarstellen. Ihr saß die Hand durchaus locker. Ich wurde gescholten und bestraft. Aber sie liebte mich aufrichtig. Sie liebte mich auch, wenn ich von der Schaukel fiel oder mit schmutzigen Schuhen durch die Wohnung tappte. Sie liebte mich, wenn ich kotzen musste, mir der Rotz aus der Nase lief oder ich mir die Knie aufschlug. Sie liebte mich im Guten wie im Schlechten. Ihre Liebe schien eine unerschöpfliche Quelle zu sein.
Meine Mutter beging nur einen Fehler: Sie schenkte mir ihre Liebe, ich musste mich nicht darum bemühen.
Ich habe nämlich eine Theorie: Kinder versuchen immer, die Liebe zu bekommen, die sich ihnen entzieht. In meinem Fall war das die Liebe meines Vaters, die er unter Verschluss hielt wie Papiere in einem Aktenkoffer. Und ich war ständig darum bemüht, sie zu ergattern.
Viele Jahre später, nach dem Tod meiner Mutter, erstellte ich Listen über Situationen, in denen meine Mutter sich für mich eingesetzt hatte, und Situationen, in denen ich sie im Stich gelassen hatte. Das Ergebnis war todtraurig. Warum erhöhen Kinder meist ein Elternteil und erachten das andere als minderwertig?
Vielleicht hatte mein alter Herr ja Recht. Vielleicht kann man Mamakind oder Papakind sein, aber nicht beides zugleich. Deshalb klammert man sich an das Elternteil, das man zu verlieren fürchtet.
Als meine Mutter sich für mich einsetzte
Ich bin fünf Jahre alt, und wir sind unterwegs zu Fanelli’s, um einzukaufen. Eine Nachbarin im Morgenmantel, mit rosa Lockenwicklern im Haar, reißt ihre Fliegengittertür auf und ruft meine Mutter. Während die beiden sich unterhalten, spaziere ich zum Haus nebenan.
Plötzlich springt ein Schäferhund auf mich zu. Wuffwuffwuff ! Er ist an einer Wäscheleine festgebunden. Wuffwuffwuff ! Er richtet sich auf und zerrt an der Leine. Wuffwuffwuff !
Ich sause heulend vor Angst davon. Meine Mutter kommt angerannt.
»Was ist los?«, schreit sie und packt mich an den Armen. »Was ist passiert?«
»Ein Hund!«
Sie atmet heftig aus. »Ein Hund? Wo? Hinter dem Haus?«
Ich nicke schluchzend.
»Einen Moment, Shirley!«, ruft meine Mutter der Nachbarin zu.
Sie nimmt mich an der Hand und marschiert mit mir hinters Haus. Da ist der Hund, der wieder losbellt. Wuffwuffwuffwuff ! Ich springe ängstlich zurück. Aber meine Mutter zerrt mich vorwärts. Und bellt. Sie bellt. Sie gibt das eindrucksvollste Hundebellen von sich, das ich je von einem Menschen gehört habe.
Der Hund zieht winselnd den Schwanz ein und duckt sich. Meine Mutter macht auf dem Absatz kehrt und marschiert mit mir davon.
»Du musst ihnen zeigen, wer der Chef ist, Charley«, sagt sie.
aus einem Notizbuch,
gefunden in Chick Benettos Unterlagen
Chick kehrt in sein Elternhaus zurück
D ie Sonne war inzwischen aufgegangen über meinem alten Wohnviertel und leuchtete zwischen den Häusern hindurch. Das grelle Licht traf mich wie ein Schlag, und ich musste die Augen mit der Hand beschatten. Es war Anfang Oktober, und am Bordstein lagen Blätterhaufen, die mir höher vorkamen als früher. Ich sah auch weniger vom Himmel als damals. Ich glaube, wer an den Ort zurückkehrt, an dem er seine Kindheit verbracht hat, bemerkt als Erstes, wie hoch die Bäume geworden sind. Pepperville Beach. Die Geschichte dieses Namens ist einigermaßen peinlich. Vor etlichen Jahren ließ ein Unternehmer ein paar Wagenladungen Sand ankarren, weil er der Meinung war, das Städtchen könne mehr
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