Nur Engel fliegen hoeher
Gang. Plötzlich ein rotes Blinklicht. Eine Schranke schließt sich. Mit quietschenden Bremsen bekommt Jonas den Wagen kurz vor dem Bahnübergang zum Stehen.
»Keep cool, Jonas. Du schaffst das. Da kommt schon der Zug.«
»Und der Wartburg auch«, flucht er.
Julia dreht sich um. »Fuck you!«
Ein kurzer Personenzug fährt durch. Die Schranken gehen hoch und Jonas gibt Gas. Er überquert die Fernverkehrsstraße 96, der Wartburg bleibt dicht hinter ihm. Auf der schnurgeraden Straße zur Fähre hängt Jonas die Verfolger ab: Der rote Wagen wird im Rückspiegel immer kleiner, bis er schließlich ganz verschwunden ist. Die kleinen Orte rechts und links neben der Straße fliegen buchstäblich vorüber. Dann das Dorf Trent. Jonas bremst leicht ab. Unmittelbar vor ihnen biegt ein Lkw W50 mit Anhänger in die Vorfahrtstraße ein und fährt ebenfalls in Richtung Wittower Fähre. Noch knapp vier Kilometer. Jonas versucht zu überholen. Doch im Gegenverkehr sind Radfahrer unterwegs - keine Chance, auf der schmalen Fahrbahn an dem Lkw vorbeizukommen. Nur noch drei Minuten bis zum Ablegen der Wittower Fähre. Während Jonas und Julia ungeduldig hinter dem Lkw herfahren, taucht weit hinter ihnen der rote Wartburg auf.
»Sieht nicht gut aus«, sagt Julia.
»Abwarten. Da vorn ist schon die Fähre.«
Sie nähern sich dem südlichen Anleger der Wittower Fähre. Es ist exakt 15 Uhr. Das Schiff liegt abfahrtbereit. Lediglich zwei Mopeds und ein paar Fußgänger stehen auf der Ladefläche. Ein Fährmann mit weißer Schiffermütze lotst den Lkw aufs Schiff und misst mit einem kurzen Blick den Abstand vom hinteren Ende des Anhängers bis zum Heck der Fähre.
»Für euch ist noch Platz!«, ruft er und winkt den Lada an Bord.
Sie rollen auf die Fähre. Der rote Wartburg ist dicht hinter ihnen.
»Halt!«, ruft der Fährmann. »Sie passen nicht mehr drauf. Wir kommen in einer halben Stunde wieder.«
Er löst die Festmacher. Die Fähre legt ab. Julia und Jonas steigen aus dem Auto und schlagen die Handflächen gegeneinander. Die zwei Stasi-Typen sind auch ausgestiegen und sehen dem Schiff machtlos hinterher. Julia nimmt ihre Kamera und versucht, die beiden zu fotografieren. Als sie das bemerken, halten sie die Hand vors Gesicht und springen wieder in ihr Auto. Julia lacht und winkt ihnen zu.
Kapitel 11
Um zehn nach drei legt die Fähre auf der Halbinsel Wittow an. Julia und Jonas fahren von Bord und nehmen die Landstraße über Wiek und Altenkirchen in Richtung Kap Arkona, dem nördlichsten Punkt von Rügen. In Putgarten, etwa anderthalb Kilometer südlich des Kaps, biegen sie von der befestigten Straße ab in Richtung Vitt. Sie passieren einen schmalen Betonplattenweg, der durch vom Schnee weiß gezuckerte Felder führt. Von ihren Verfolgern fehlt jede Spur.
Das Dorf Vitt liegt in einer Hochuferschlucht direkt am Meer und besteht aus 13 Häusern, die sich dicht an die Steilküste schmiegen. Vitt ist der kleinste Ort des Landes. Er steht seiner architektonischen Ursprünglichkeit wegen auf der Denkmalliste der UNESCO.
Jonas stellt sein Auto hinter der alten achteckigen Kapelle ab, die hoch über der Steilküste thront. Von der Straße nach Kap Arkona, die in gut einem Kilometer Entfernung verläuft, ist der Wagen nicht zu sehen. Hier oben auf dem Felsen über dem Meer hielt im 19. Jahrhundert der legendäre Altenkirchener Dichter und Pastor Ludwig Theobul Kosegarten seine Strandpredigten; bis 1806 sprach Kosegarten unter freiem Himmel mit Blick auf das Meer zu seiner Gemeinde. Dann ließ er, um auch im Winter Gott dienen zu können, die achteckige Kapelle auf dem Hochufer errichten. Caspar David Friedrich wanderte mehrere Sommer lang an dieser Steilküste und skizzierte Kreidefelsen, Schiffe und Meer.
Julia fasst Jonas bei der Hand. »Ich kann es kaum glauben. Das ist wie ein Traum. Wir beide allein - außer uns nur Wind und Meer.«
Es wird allmählich dunkel und beginnt wieder zu schneien. Hand in Hand betreten sie die kleine Kapelle. Die Tür steht offen, auf dem Altar brennt eine Kerze. Darüber hängt ein großes Gemälde: Es zeigt ein kleines, offenes Boot, in dem acht Männer auf dem stürmischen Meer um ihr Leben ringen.
«Jonas, ist das von Caspar David Friedrich?«
»Ich vermute, es ist von Philipp Otto Runge, einem Zeitgenossen von Caspar David. Er stammte aus Wolgast.«
»Ist das ein Original?«
»Es könnte auch eine Kopie sein. Aber vielleicht auch das Original.«
»Ich kann es nicht glauben. Das hängt
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