Nur Engel fliegen hoeher
mit Parolen wie »Weiter voran auf bewährtem Kurs« flattern im Frühlingswind. Noch nie erschien Jonas dieses Ritual so überkommen und lächerlich wie in diesem Mai.
Und doch ist einiges anders als an den Demonstrationen vergangener Jahre. Im Abstand von etwa fünfzig Metern parallel zum Demonstrationszug stehen je zwei Polizisten in Uniform mit umgehängtem Funkgerät. In jeder noch so schmalen Straße oder Gasse, die seitlich in die Hauptstraße mündet, lungert eine Gruppe von jungen Männern in hellen Windjacken - so augenfällig, dass niemand die Stasi-Präsenz übersehen kann. Abseits in den Seitenstraßen parken Mannschaftswagen der Kampfgruppen. Es sieht so aus, als hätte die Staatsführung Angst vor der eigenen Arbeiterklasse, als befürchtete die Arbeiter- und Bauernmacht, dass ein Arbeiter oder Bauer ein ungenehmigtes Transparent entrollen könnte. Wie verunsichert muss ein Staat sein, der sich unter solch einem Sicherheitsaufgebot feiern lässt?
Einen Tag nach den Maifeierlichkeiten findet Jonas eine Postkarte im Briefkasten. Seine Adresse ist mit Schreibmaschine geschrieben. Der Absender wurde eingestempelt: Rat der Stadt Rostock, Abt. Innere Angelegenheiten. Auf der Rückseite ist das Wort »Vorladung« aufgedruckt. Darunter stehen mehrere Kästchen mit verschiedenen Gründen für eine Vorladung. Auf Jonas' Karte ist das unterste Feld angekreuzt: »Zwecks Klärung eines Sachverhaltes«.
Jonas erscheint am angegebenen Tag pünktlich bei der Abteilung Inneres im Rathaus. Er wird in das ihm bereits bekannte Sprechzimmer gebeten. Frau Krämer, die wieder ihr graues Kostüm trägt, begrüßt ihn freundlich, aber distanziert mit einem Händedruck. An ihrer Seite sitzt ein älterer Herr, leicht untersetzt, mit grauem Haar.
»Guten Tag, Wohlgemuth ist mein Name.« Der Herr steht auf und reicht Jonas freundlich die Hand. »Dürfen wir bitte einmal Ihren Personalausweis sehen?«
Jonas reicht ihm seinen Ausweis. Wohlgemuth blättert ihn kurz durch und gibt ihn Frau Krämer, die ihn unbesehen in die rechte Seitentasche ihres Kostüms steckt.
»Tja, min Jung«, eröffnet Wohlgemuth das Gespräch und kratzt sich am Kopf. »Mir scheint, dass das Fahrwasser, in dem Sie schippern, immer kabbeliger wird.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Erklären Sie uns doch bitte einmal, wo Ihre Frau Ellen und Ihre Tochter Maria derzeit vor Anker liegen.«
»Ellen hat eine Reisegenehmigung zu einer Kunstausstellung in Dänemark erhalten. Sie ist in Kopenhagen und kommt morgen zurück. Maria ist so lange bei Ellens Mutter in Greifswald.«
Wohlgemuth sieht zu Frau Krämer hinüber und nickt. Sie zieht einen Briefumschlag aus der Tasche und schiebt ihn Jonas hin.
»Ein Telegramm? An mich adressiert? Wie kommen Sie dazu?«
»Über solche Nebensächlichkeiten müssen wir jetzt nicht diskutieren«, sagt Wohlgemuth. »Bitte öffnen Sie und lesen Sie das Telegramm.«
Der Umschlag ist nicht zugeklebt. Also kennen Herr Wohlge-muth und Frau Krämer den Inhalt bereits. Jonas öffnet das Kuvert und liest:
Lieber Jonas. Wir bleibet} hier. Bitte nicht böse sein.
Ellen und Maria.
Jonas bleibt der Mund offen. Er sinkt auf dem Stuhl in sich zusammen. Als er die Fassung wiedergewonnen hat, fragt er: »Wie war das möglich, dass Maria mit ausreist? Mir ist nicht bekannt, dass Ellen unsere Tochter mitnehmen durfte. Oder?«
»Nein. Die Reisegenehmigung galt allein für Ihre Frau. Ihre minderjährige Tochter hat illegal die Republik verlassen. Was wussten Sie davon?«
»Ich bin schockiert. Wir haben Ellens Trabi-Kombi randvoll mit all dem beladen, was sie auf dem Kunstmarkt verkaufen wollte. Sie hatte vor, Maria bei ihrer Mutter in Greifswald abzugeben und dann zur Fähre zu fahren.«
»Haben Sie sich jemals davon überzeugt, dass Ihre Tochter bei Ihrer Schwiegermutter angekommen ist?«
»Ellens Mutter hat kein Telefon.«
»Was hatte Ihre Frau mitgenommen?«
»Ein paar Privatsachen, vor allem aber ihre Keramiken und ihre Gobelins, die sie verkaufen wollte.«
»Was sind Gobelins?«
»Gewebte Wandteppiche oder große Vorhänge. Meine Frau macht auch Textilgestaltung.«
Wohlgemuth atmet tief ein, als wolle er eine wichtige Rede halten, und sagt dann deutlich, aber nicht unfreundlich: »Herr Maler, wir nehmen hier Ihre Aussage dazu zur Kenntnis. Sollte sich jedoch herausstellen, dass Sie von der beabsichtigten Republikflucht Ihrer Frau und Ihrer Tochter wussten oder gar an der Vor-
bereitung zur Republikflucht aktiv
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