Nur Engel fliegen hoeher
Thälmannplatz und biegt in die Kröpeliner Straße ein. Vor dem Redaktionsgebäude der NNN hält er inne. Nach kurzem Überlegen geht er die schmale Treppe hinauf zur Lokalredaktion. Wolfram Krall brütet über einem Artikel. Jonas setzt sich ihm gegenüber.
»Haste 'n Schnaps für mich?«
»Jonas, bist du krank? Seit wann trinkst du harte Sachen?«
»Hast du oder hast du nicht?«
Wolfram kramt eine versteckte Schnapsflasche aus dem Papierkorb, nimmt zwei Gläser aus der Schublade und gießt ein.
»Hat dich deine West-Schnecke verlassen?«
Jonas schweigt.
»Oder etwa deine Frau?«
»Beide.«
»Na, wenn das kein Grund zum Feiern ist - Prost!«
»Wolfram, du wirst künftig weniger trinken müssen.«
»Hä?«
»Weil bald niemand mehr da ist, der deine Lokalseite rettet, wenn du besoffen bist.«
»Kannst du dich mal klarer ausdrücken?«
»Ich stelle heute meinen Ausreiseantrag.«
Wolfram klappt die Kinnlade herunter. Er zieht zwei Zigaretten aus seiner Hemdtasche und reicht eine Jonas.
»Alter, mach keinen Scheiß. Dich haben sie sowieso schon auf dem Kieker.«
»Ich bin fest entschlossen.«
»Wäre ja schön, wenn ich auch mal einen Kumpel im Westen hätte, der mir 'ne Jeans oder ein paar D-Mark rüberschieben könnte...«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Schon gut, Alter, war nicht so gemeint. Noch einen Schnaps ?«
»Nee.«
»Jonas, ich finde es einfach nicht gut, dass du uns verlässt.«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Ich weiß, dass dich vieles ankotzt. Aber deswegen musst du dich nicht selbst zum Staatsfeind machen.«
»Jedes Regime schafft sich seine Feinde selbst.«
»Vielleicht denkst du noch mal drüber nach.«
»Ich habe viele Jahre darüber nachgedacht. Heute habe ich mich entschieden.«
Jonas drückt seine Zigarette aus und geht.
Es ist kurz vor Mittag, als Jonas seinen Arbeitsplatz im Verlagshaus »Der Demokrat« erreicht. Er ist allein in der Lokalredaktion. Wo seine Kollegen gerade sind oder welche dienstlichen Termine anstehen, interessiert ihn nicht mehr. Er zieht seine alte Schreibmaschine zu sich heran und spannt ein weißes Blatt ein.
In dem Moment platzt sein kleiner Chefredakteur mit der großen roten Fliege herein. Normalerweise weiß sein Chef immer einen neuen Witz. Doch er hat eine ernste Miene aufgesetzt und sagt im Befehlston:
»Wenn du mit deinem Artikel fertig bist, kommst du zu mir.« Jonas nickt. Sein Chef verschwindet. Dann schreibt Jonas:
Ausreiseantrag
Unter Berufung auf die URO-Charta der Menschenrechte und die Schlussakte der KSZE-Konferenz von Helsinki beantrage ich für mich, Jonas Haler« die Entlassung aus der DDR—Staatsbürgerschaft und die ständige Ausreise in ein Land meiner Wahl.
Jonas steckt sich eine Zigarette in den Mund. Jemand reicht ihm von hinten ein brennendes Streichholz. Er dreht sich um. Sein Chef steht hinter ihm.
»Bist du wahnsinnig?! Zieh das sofort raus und komm mit!«
Jonas nimmt das Blatt aus der Maschine, faltet es zweimal und folgt seinem Chefredakteur in dessen Büro.
»Sag mal, bist du noch bei Trost?«
Jonas sagt nichts.
»Da, wo du hin willst, ist noch immer der Klassenfeind!«
Jonas schweigt weiter.
»Weißt du, dass du hier rausfliegst?«
»Ich habe einen festen Arbeitsvertrag. Der ist in der DDR unkündbar.«
»Wenn du dich da mal nicht täuschst. Du bist ein berufener Redakteur einer Zeitung der Christlich Demokratischen Union.«
»Eine christliche Partei wird es respektieren, wenn sich einer ihrer Redakteure auf die internationalen Menschenrechte, die von der DDR unterzeichnet wurden, beruft.«
»Einen Teufel werden die tun!« Und halblaut fährt sein Chef fort: »Halt bloß deine Klappe. Die Stasi und der CDU-Bezirksvorstand haben längst einen Fahrplan geschmiedet, wie sie dich hier rausschmeißen. Ich hab es dir nicht gesagt. Behauptest du das Gegenteil, muss ich abstreiten, dass ich mit dir darüber gesprochen habe. Sie werden dich aus der CDU rausschmeißen. Dann ist der Weg frei, dass dich der CDU-Hauptvorstand als Redakteur abberuft. Berufung steht über Arbeitsrecht. Damit fliegst du.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die CDU jemanden rausschmeißt, der das Grundrecht auf Freiheit für sich einfordert.«
Sein Chefredakteur zeigt ihm einen Vogel und hält dann seinen linken Zeigefinger vor den Mund. Beide sagen fortan kein Wort mehr. Der Chef stellt leise zwei Schnapsgläser auf den Tisch und gießt sie voll. Sie nicken sich zu und kippen den Fusel hinunter.
Weitere Kostenlose Bücher