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Nur Gutes

Titel: Nur Gutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erwin Koch
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Vergönnen verwechseln sie mit verwehren, hat Simon gesagt. Die Leute, zum Beispiel, schreiben, eine höhere Schule war ihm oder ihr leider vergönnt. Die Leute meinen aber das Gegenteil, eine höhere Schule konnte er oder sie nicht besuchen, eine höhere Schule war ihr nicht vergönnt. Und wenn Simon das dann korrigiert hat, wenn der Nachruf in verständlichem Deutsch im Tagblatt war, rufen die Leute ihn an und beschweren sich. Warum haben Sie aus dem vergönnt ein nicht vergönnt gemacht? Dann versucht Simon zu erklären. Einmal sogar hat er jemandem eine Kopie aus dem Wörterbuch geschickt. Aber die Leute bestehen auf dem Falschen, das Richtige halten sie für falsch.›
    ‹Auf Ihr Wohl›, sagte Albert und hob das Glas, ‹auf unser Wohl.›
    Sie stießen an, sahen sich in die Augen.
    Anna sah zur Uhr, fünf nach halb zwei.
    Sie aßen und schwiegen.

    ‹Sie waren die ganze Nacht allein auf dem Friedhof, Sie allein?›, fragte Albert.
    ‹Oder wie die Leute, wenn sie einen Nachruf schreiben, um den Brei herumreden und nicht zu benennen wagen, was einen Namen hat›, sagte Dagmar.
    ‹Ja›, sagte Anna, ‹ich war die ganze Nacht allein.›
    ‹Aids, zum Beispiel›, sagte Dagmar.
    ‹Bis zum Morgen?›, fragte Albert.
    ‹Das nennen sie dann, statt Aids, eine kurze schwere Krankheit.›
    Sie sei eingeschlafen, sagte Anna Baumer.
    An Pauls Grab?
    An Vaters Grab.
    ‹Simon›, sagte Dagmar, ‹wird irgendwann auch unseren Nachruf schreiben, Alberts und meinen. Das hat er uns versprochen.›

    Ein Schneepflug fuhr lärmend und ratternd die Grundstraße hinab und herauf, schob den Schnee auf den Gehsteig, Sonntag, elfter Zwölfter.

    ‹Ein Dessert kann ich nicht bieten. Das Dessert hätte Simon gebracht, einen Christstollen, vermute ich, mit Mandeln und Rosinen. Kaffee?›, fragte Dagmar.
    ‹Später›, sagte Albert.
    ‹Ich trinke keinen Kaffee›, sagte Anna.
    ‹Möchten Sie Tee?›, fragte Dagmar.
    ‹Es ist gut so›, sagte Anna.
    Dagmar sagte, Simon hätte sich gefreut, sie, Anna, hier zu sehen. Simon vermisse seine Kinder sehr, Tim und Charlotte, fünfeinhalb und acht. Allein sein, das könne er schlecht, allein sein, das habe er nie gekonnt.
    Sie zog eine Schublade, nahm daraus ein Paket Biskuits und öffnete das Paket, legte die Biskuits in eine Schale, stellte die Schale auf den Tisch, Waffeln, mit Schokolade bezogen.
    Dagmar setzte sich und schwieg.
    Albert, beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt, zupfte an den Haaren seiner rechten Braue.
    ‹Sie leben im Ausland, nehme ich an.›
    ‹Jetzt ist es fast zwei›, sagte Dagmar.
    ‹Nicht wahr?›
    ‹Im Ausland, ja›, sagte Anna.
    ‹Und, wenn ich fragen darf, von was und wie?›, fragte Albert.
    ‹Herr Mangold›, sagte Anna und zog den Pullover über ihre Hände, so weit, dass man nur noch die Spitzen ihrer Finger sah, ‹Sie waren doch der Freund meines Vaters. Hat sich mein Vater, hat er sich wirklich aus dem Fenster gestürzt?›
    Albert sagte: ‹Das sei er sich wert, sagte Paul einmal, als ich ihn besuchte. Das hatte er sich versprochen. Man soll seine Frist nicht strecken, so drückte Paul sich aus. Wie man ein Messband nicht strecke, weil es dann nicht mehr stimme, weil es dann nicht mehr erfülle, wozu esgut sei. Oder wie man einen Wein nicht strecke, sagte Paul, weil er dann ungenießbar sei.›
    ‹Wir werden Paul vermissen›, sagte Dagmar.
    ‹Manchmal, zwar selten, brachte ich ihm eine Predigt, die mir wichtig war, und bat Paul, sie zu lesen, ich bat ihn um seine Meinung.›
    ‹Sagte er›, fragte Anna, ‹was er meinte?›
    ‹Ich weiß es nicht, ich vermute es. Oft sagte er, als Prediger sei ich im Alter gelassener geworden und ehrlicher als früher. Es kam aber vor, dass er eine Predigt Rührstück nannte oder Operettenlibretto. Paul konnte, zumindest mit der Wahl seiner Worte, verletzen.›
    ‹Ich heiße jetzt nicht mehr Baumer, nicht mehr Anna›, sagte Anna leise.
    Sie sah zu Albert, zu Dagmar.
    ‹Das nehme ich an›, sagte Albert und zupfte an seiner Braue.
    Sie sei jetzt Lehrerin für behinderte Kinder, eine Lehrerin mit schwarzgefärbtem Haar und falschem Namen, nein, falsch sei der Name nicht, nur anders als damals.
    Sie schwiegen.

    ‹Verjährt das denn nie?›, fragte Dagmar.

    Anna sagte: ‹Was ich nicht ertrug, war die Kantine. Dieser Geruch, der Lärm, das Kichern der Frauen. Das Schlimme war die Kantine. Manchmal, in der Kantine, tat ich so, als müsste ich zur Toilette. Dann führte mich eine Wärterin zur

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