Nur Gutes
Arme hinter dem Rücken.
Anna hob den Rucksack auf ihren Schoß.
‹Fünfzehn Zentimeter Schnee, mindestens›, sagte Albert, ‹Pech für alle, die nun im Auto unterwegs sind.›
Und jetzt? -
Was machen wir jetzt? -
‹Ich war nicht die Tochter von Paul und Margareta Baumer, Rosenstraße zwanzig, Aberwald›, sagte Anna. ‹In Wahrheit war ich die Tochter von König Didier dem Schönen und seiner Frau, Prinzessin Christine. Die hatten mich, weil sie so viele Länder besaßen, die sie besuchen mussten, Paul und Margareta Baumer zur Pflege überlassen, ich war ihr Pflegekind.›
Anna lachte hell.
‹Deshalb wohnte ich dort, an der Rosenstraße zwanzig in Aberwald. Ich vermisste sie, meine richtigen Eltern, König Didier und Prinzessin Christine. Vor allem am Sonntag vermisste ich sie, am Sonntagnachmittag, wenn nichts geschah, wenn meine Pflegeeltern schliefen oder lasen oder Musik hörten, den Boléro von Ravel. Dann vermisste ich sie am meisten. Manchmal stellte ich mich ans Küchenfenster und sah hinaus auf die Straße, an der wir wohnten, ich war mir sicher, dass nun eine Kutschevorfährt, die mich nach Hause holt aufs Schloss. Das Schloss hatte einen Namen. Den habe ich vergessen. Ganze Sonntagnachmittage stand ich am Küchenfenster und wartete auf die gelbe Kutsche. Die Kutsche, die mich heimholen würde, war gelb, sehr gelb.›
‹Golden›, sagte Dagmar.
‹Nicht golden, sondern sehr gelb›, sagte Anna.
‹Warum erzählen Sie uns das?›, fragte Albert, den Rücken zum Tisch gewandt.
‹Warum ich das erzähle? Ich weiß es nicht. Vielleicht deshalb, weil es Sonntagnachmittag ist und Sie, Herr Mangold, wie damals ich, am Küchenfenster stehen und darauf warten, dass etwas geschieht.›
Anna erzählte nicht, was sie einst mir erzählt hatte, als wir in meinem Zimmer lagen, erschöpft von der Liebe und von unseren Plänen. Anna erzählte meinen Eltern nicht, wie sie damals, fünfzehnjährig, am Fenster der Küche stand und auf ihren Vater wartete, der losgefahren war, beim Büro der Aberwalder Nachrichten einen Nachruf aufzugeben, Annas Mutter war gestorben, Margareta Baumer, viereinhalb Monate lang hatte sie im Krankenhaus gelegen, zum Schatten geschrumpft. Stundenlang, hatte mir Anna erzählt, stand sie am Fenster und wartete und dachte, er kommt nicht mehr nach Hause, mein Vater, er ist fort und davon. Als er kam, war er grau im Gesicht, grün, er versuchte zu reden, er lallte und erbrach sich ins Spülbecken. Es war Mai, Ende Mai, die Luft warm. Anna, am anderen Morgen, zog die weißenSocken an, die Lackschuhe, zum ersten Mal den neuen gelben Sommerrock, es war Sommer.
So gehst du mir nicht aus dem Haus, schrie der Vater, einen Tag nach dem Tod deiner Mutter gehst du mir so nicht aus dem Haus, Anna, zieh was Dunkles an, die schwarze Strumpfhose, den schwarzen Rock.
Anna und ich lagen auf meinem Bett, und Anna weinte, nie sonst sah ich Anna weinen. Ich wusste nicht, wie ich sie trösten könnte. Ich fragte: Was ist denn, Ännchen? Was weinst du?
Ich wollte sie streicheln, sie drehte sich weg. Sie habe ihre Mutter, weinte Anna, dafür gehasst, dass sie am Tag starb, als es Sommer wurde und Anna den neuen gelben Sommerrock tragen wollte, die weißen Socken, die Lackschuhe.
Nie sonst sah ich sie weinen.
‹Der Schneepflug da draußen ist zu schwach für diese Menge Schnee›, sagte Albert Mangold.
‹Kaffee. Möchte jemand Kaffee?›, fragte Dagmar, ‹Kaffee oder Tee?›
Man schwieg und sah zur Uhr.
Dagmar stand auf, trat ans Spülbecken, drehte den Hahn und wusch die Hände, trocknete die Hände mit einem Tuch, das an einer Stange hing, zog das Tuch glatt.
‹Dann lassen wir das. Weder Tee noch Kaffee.›
Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
‹Simon, als er neulich hier war mit den Kindern.›
‹Dagmar gefällt es, halbe Sätze zu machen›, sagte Albert.
‹Warum erzähle ich das? Königskinder! Königsnudeln! Simon hat erzählt, dass ich ihn eines Abends, als es schon dunkel war, noch einmal zum Einkaufen schickte. Damals war an der Ecke zur Weiherdammstraße noch dieser kleine Laden, es war Winter, Königsnudeln sollte er holen, die breiten. Oder hab ich das schon erzählt?›
‹Erzählen Sie weiter›, sagte Anna.
‹Das habe ich doch schon erzählt›, sagte Dagmar.
‹Erzähl doch›, sagte Albert.
‹Da kam Simon mit schmalen Nudeln zurück. Die essen wir ja nicht, die schmalen. Also musste er noch einmal los. Wie gesagt, es war Winter und Abend,
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