Nur Gutes
fragen, was sie da in ihrem kleinen Rucksack hat, den sie ständig an sich drückt -
Dagmar bückte sich zum Apparat. Ihre Stimme war höher als sonst, mädchenhaft.
‹Mangold.
Dein Vater hat es eben erzählt.
Ja.
Das hat er eben erzählt. Sogar die Kirche haben sie zugemacht.
Nein, Simon.
Keine Ahnung. Das halbe Viertel sei abgeriegelt, sagt er.
Das nehme ich an.
Ja, es bleibt dir keine andere Wahl. Uns auch nicht. Essen wir nun allein, ja. Schade.
Grüße von Papa. Und Küsse für die Kinder, wenn du sie siehst.›
Anna stand neben dem hellen Tisch und sah zum Fenster, führte den Arm in den Mantel.
‹Frau Baumer, die lassen niemanden aus dem Haus›, sagte Albert leise.
‹Die Polizei lässt das Taxi nicht durch. Er ist am Weinbergplatz. Ein Helikopter steht dort, sagt er. Nun fährt ernach Hause zurück. Simon sagt, er ruft am Abend wieder an›, sagte Dagmar.
Dagmar rieb die kalten Hände.
‹Ich verschwinde›, sagte Anna.
‹Frau Baumer, Sie können jetzt und hier nicht raus›, sagte Albert, lauter als er wollte.
Er stand auf, wortlos, nahm Annas Mantel und ging in den Flur, nahm einen Bügel, hängte den Mantel an einen Haken.
‹Wenn ich gewusst hätte, wie es kommt, wäre ich nicht gekommen.›
‹Schon gut›, sagte Albert.
Seine Brauen waren geschwollen, die Lippen verzerrt.
Anna, Kind, hör endlich auf zu hüpfen! -
Am Sonntagvormittag lag Vater im Wohnzimmer und hörte eine Schallplatte, immer dieselbe, Boléro von Ravel, diese ewig gleiche Abfolge einer Melodie, wieder und wieder, zuerst kaum hörbar, dann leise, dann laut, dann lauter, anschwellend, hämmernd, bis am Schluss das Wohnzimmer bebte. Dann stand er auf und ging zum Plattenspieler, hob den Tonarm und legte ihn zurück zum Anfang, dreimal, viermal am Sonntagmorgen. Hüpfte man durchs Haus, sprang die Nadel des Plattenspielers. Um nicht zu hüpfen, schloss ich mich in mein Zimmer und dachte, bei diesem Kleiderhändler Baumer, der Musikdosen liebt und jeden Sonntag die gleiche Platte hört, wieder und wieder, bin ich nur zur Pflege, in Wahrheit bin ich nicht Anna, ich bin das Kind von Königen -
‹Weiß jemand, dass Anna hier ist?›, fragte Dagmar.
‹Wer sollte es wissen?›, sagte Albert.
‹Vielleicht hat man gesehen, wie Anna heute Morgen ins Haus kam.›
‹Dann hätten sie mich danach gefragt. Aber das taten sie nicht. Die fragten nicht, ob jemand bei uns sei. Die wollten nur wissen, wer ich bin, den Ausweis wollten die, meine Fingerabdrücke und die Kirchenschlüssel.›
‹Soll ich jetzt kochen?›
‹Jetzt bringen sie die Hunde weg›, sagte Albert.
Dagmar öffnete eine Schublade und nahm daraus einen Topf, sie nahm eine Tasse, füllte sie mit Wasser, kippte das Wasser in den Topf, dreimal, Dagmar stellte den Topf auf den Herd und drehte einen Knopf, sie sah zur Uhr neben dem Kalender, zehn vor eins.
‹Es hört nicht auf zu schneien›, sagte Albert.
Dieses Brennen zwischen den Schulterblättern, dort, wo keine Hand hinkommt, dachte Dagmar. Das letzte Mal, als ich das hatte, dieses Brennen zwischen den Schulterblättern, wo keine Hand hinkommt, saß Simon hier am Tisch.
Es ist fertig, sagte Simon, sie ist gegangen, hat Charlotte und Tim mitgenommen.
Wie, fragte Albert, begründet sie den Schritt?
Wie begründet sie den Schritt?, sagte Simon. Sie begründet nicht. Ich als Ganzes sei der Grund, weshalb sie mich verlasse. Sag mir, sagte ich, was ich falsch gemacht habe, ein Beispiel. Sie überlegte, sagte dann, vielleicht ertragesie mich nicht länger, weil ich sie nie bei ihrem Namen nannte. Weil ich alles andere zu ihr sagte, Schatz und Spatz, nur nicht Anna.
Dagmar kippte Reis ins kochende Wasser.
‹Zwanzig Minuten noch›, sagte sie.
Anna saß am hellen Tisch und strich ihr langes Haar aus dem Gesicht, Albert, den Rücken zu ihr gewandt, stand am Fenster, rechts die Grundstraße, die zum Friedhof führt, links der Lukasweg, die Treppe zum Hof, Pappeln im letzten Laub, auch Birken, seit Wochen kahl.
Jetzt müsste man ein Fernglas haben -
Paul besaß ein Fernglas, als er krank im Bett lag. Albert hatte ihm ein Fernglas geschenkt und den Vorhang von seinem Fenster genommen. Unheimlich, hatte Paul gesagt, wie man am Ende zu den Spielen des Anfangs zurückfinde. Er, das Fernglas vor den Augen, schaue nun stundenlang den Wolken zu und überlege, wem oder was sie ähnlich sähen, dem Gesicht von Helmut Kohl zum Beispiel, einem Hirsch, einem Stuhl, dem Gesicht von Mickymaus oder Maria
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