Nur Gutes
Lutterlob, wir hatten Teller mit hohem Rand›, sagte Dagmar und aß Suppe.
‹Der Rand unserer Teller war höher als der Rand aller anderen Teller, die ich als Kind je sah, bei Verwandten, bei meinen Freundinnen, in Restaurants. Darauf, glaube ich, war ich sogar stolz, dass der Rand unserer Teller so hoch war.›
‹Entschuldigung›, sagte Albert, ‹möchte jemand ein Stück Brot?›
‹Nein›, sagte Anna.
‹Kein Brot›, sagte Dagmar. ‹Und auf dem Grund der Teller, die wir hatten, stand ein Hirsch. In ausgewaschenen Farben zwar, ein Hirsch. Der Hirsch hatte ein breites Geweih, er stand auf einer Wiese an einem Teich am Waldrand und sah mir in die Augen. Ohne Angst und Scheu. Fast zutraulich stand der Hirsch am Waldrand und schaute einem in die Augen. Ich dachte, der Hirsch denkt: Wer kommt denn da? Wer besucht mich denn da jeden Mittag um die gleiche Zeit? Ein liebes Gesichthatte der Hirsch. Ein gutes, ein gütiges. Man durfte nicht vom Tisch, bevor der Teller leer gelöffelt war.›
Albert stieß sich vom Stuhl und bettete das Luftkissen um.
‹Und je weniger Suppe im Teller war, desto länger sah ich den Hirsch. Dieser Hirsch rettete mich durch die Suppen meiner Mutter.›
‹Wenn Simon uns ärgern wollte, sagte er, deswegen hätte ich einen Theologen geheiratet. Weil Theologen diesen Hirschblick draufhaben, weltfremd und bekifft.›
Das habe ihn nie geärgert, sagte Albert. Was dann wiederum Simon geärgert habe. Im Ärgern sei Simon schlecht gewesen, damals. Heute könne er es besser.
Dagmar drehte sich zu Albert und legte ihre Hand auf seinen Arm.
Was mein Vater war:
zu schnellen (falschen) Annahmen neigend
7 Lackschuh
‹Simon mochte es nicht, wenn ich ihm den Finger in den Bauchnabel steckte›, sagte Anna.
‹Dann wurde er wild, fast panisch. Weil er fürchtete, der Knoten könne sich lösen, und dann fließe alles aus ihm heraus, die Därme, das Herz, die Lunge, sein Leben.›
Dagmar nahm die leeren Teller, setzte einen auf den andern, sie nahm die Löffel, legte sie in die Teller, trug sie zum Spültrog.
Anna sagte: ‹Ich glaube, deswegen habe ich ihn geliebt. Weil er ständig vor irgendetwas Angst hatte. Das machte mich stark. Ohne Simons Angst. Ohne seine Angst hätte ich nie.›
Was?, müsste man jetzt fragen -
‹Reis›, sagte Dagmar und stellte die Schüssel auf den Tisch. Sie öffnete den Ofen, Dampf quoll heraus und schlug ihr ins Gesicht, sie schloss für einen Moment die Augen, ergriff den Bräter und zog ihn aus dem Ofen, hob ihn auf den Herd.
‹Geht’s?›, fragte Albert.
‹Geht schon›, sagte Dagmar.
Sie zog die Handschuhe aus, hob den Braten aus demGefäß und legte ihn auf ein Brett aus dunklem Holz, sie nahm die lange Gabel mit den zwei Zinken, das lange Messer und schnitt den Braten in dünne Scheiben, legte die Scheiben, eine zur Hälfte auf der anderen, auf eine weiße ovale Platte.
Jetzt noch die Sauce -
‹Bedient euch.›
‹Jetzt feiern wir Sonntag›, sagte Albert.
‹Schöpfen Sie, Anna, nehmen Sie. Ich möchte nicht wissen, wann Sie zum letzten Mal richtig gegessen haben›, sagte Dagmar.
Sogar den Friedhof hätten sie zugesperrt, sagte Albert. Anna lud eine Scheibe Fleisch auf ihren Teller, etwas Reis, goss Sauce über den Reis.
‹Mit Rosmarin und einem Schuss Zitrone. Das ist das ganze große Geheimnis›, sagte Dagmar.
‹Wein!›, sagte Dagmar.
‹Ach›, sagte Albert und stand auf und bückte sich zu einer Flasche, die neben dem Kühlschrank stand, sah auf die Etikette, Valpolicella, kein teurer, mit Drehverschluss.
‹Wein›, sagte Dagmar, ‹trinken wir eigentlich nur am Sonntag.›
‹Keinen Wein, bitte›, sagte Anna, ‹nur Wasser.›
‹Keinen Wein? Früher haben Sie aber, nicht wahr, ab und zu ein Glas?›
‹Früher›, sagte Anna leise.
‹Richtig heißt es ja Rinderbraten, nicht Rindsbraten. Simon müsste das wissen. Er war Korrektor beim Holdener Tagblatt, wo er jetzt die Nachrufe macht. Er schreibt sie um in vernünftiges Deutsch. Die Leute, heute, sagt Simon, drücken sich schriftlich schlecht aus. Kaum einen vernünftigen Satz bringen sie zustande, hat Simon erzählt. Manchmal verstehen sie nicht einmal die Bedeutung gewisser Verben. Ein Beispiel. Die Leute lesen, bevor sie sich hinsetzen, um einen Nachruf zu schreiben, die Nachrufe anderer. Man kopiert sich und kopiert die Kopie der Kopie der Kopie, man wiederholt Wiederholungen, schreibt immer das Gleiche, oft wörtlich. Ein Beispiel. Das Wort vergönnen.
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