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Nur Gutes

Titel: Nur Gutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erwin Koch
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Toilette, ich schloss mich ein, ichschloss mich weg und war geschützt. Fünf Minuten Ruhe. Bis die Wärterin fragte: Baumer, was ist los da drin? Neun Jahre Gefängnis. Ein Drittel davon, bei guter Führung, erlassen. Sechs Jahre Knast.›
    Dagmar schob die Biskuits zu Anna.
    ‹Bitte›, sagte sie.
    ‹Ich hatte eine Freundin im Knast. Eines Tages, als wir im Hof spazierten, sagte sie: Komm mit! Komm mit!, sagte sie. Wohin? Hinaus! Man holt mich hier raus, in drei Tagen holt man mich raus. Zuerst musste ich lachen. Wenn du mitkommen willst, dann steh am Mittwoch sechzig Sekunden zu früh vor der Näherei, genau sechzig Sekunden zu früh. Sie sagte nicht, eine Minute, sondern sechzig Sekunden. Ein kleiner Lastwagen, ein Lieferwagen wird dort sein, mit blauem Verdeck, er steht, wie zufällig, nah an der Wand. Auf das Verdeck ist geschrieben Hannes Tanner Handel mit Textilien. Das Verdeck auf der linken Seite, das Verdeck zur Näherei, ist nicht geschlossen. Du huschst hinein und legst dich flach auf den Boden und bist ganz ruhig, darfst nicht husten und nicht niesen, nicht mal atmen. Jemand wird dann Kleidersäcke auf dich legen. Und los geht’s. Und wenn wir dann draußen sind, ziehst du dir andere Kleider an und eine Perücke, im Wagen sind Kleider, Schuhe, Perücken. Was ich nicht ertrug, war diese Kantine. Ich war sechzig Sekunden zu früh vor der Näherei. Und es waren noch vier andere dort. Ich ahnte, das geht schief, ich ahnte es. Ich hatte gedacht, nur Marianne und ich. Aber nun waren wir fünf. Wir legten uns alle in den Wagen und wartetenund schwiegen. Jemand warf Kleidersäcke auf uns und schloss das Verdeck. Dann fuhr der Wagen los. Und dann. Ich hörte Schüsse und Schreie. Schüsse. Aber der Wagen fuhr weiter. Plötzlich gab es einen Knall. Ich hatte Angst. Und irgendwann hielt er an, der Wagen, in einer großen leeren Halle. Wir zogen uns um und stiegen aus und waren frei. Ja. Und am Tag danach las ich in einer Zeitung, ein Wärter sei tot, überfahren. Ein Vater von kleinen Kindern, das jüngste neun Tage alt.›
    Anna schwieg.

    ‹Ich hätte nicht kommen dürfen›, sagte Anna.

    ‹Eine Waffel?›, fragte Dagmar.

    ‹Es kann ja sein, dass die da draußen jemand anderen suchen. So viele, wie die sind. Mit Hunden und Helikoptern. Die verfolgen eine Bande Verbrecher oder wen. Jemand Gefährlichen. Das ist doch wahrscheinlich, nicht wahr, Albert?›
    ‹Die wollten nur wissen, wer ich bin. Und ob ich heute Morgen etwas Auffälliges bemerkt hätte.› Selbstverständlich, sagte Albert, die Leute, die Kirchgänger heute Morgen, umstellt von der Polizei, hätten zu murmeln begonnen und das eine oder andere erzählt.
    ‹Was denn?›, fragte Dagmar.
    ‹Mutmaßungen, Spekulationen, nichts, was der Rede wert wäre, nichts Konkretes, nichts Genaues›, sagte Albert und sah Anna ins Gesicht.
    Ich, Simon, erreichte mein Zimmer, in dem ich lebe, seit Anna Mangold mich aufgab, um zwanzig nach zwei. Ich klopfte, bevor ich in mein Zimmer trat, den Schnee von den Schuhen, ich öffnete die Tür, sah zum Anrufbeantworter, der nicht blinkte, nichts meldete, ich legte mich aufs Bett und wollte schlafen, konnte nicht. Ich überlegte, den Fernseher anzustellen, tat es nicht, setzte mich an meinen Tisch und arbeitete. Manchmal, eigentlich immer, arbeite ich auch zu Hause, außer wenn die Kinder da sind, und redigiere an meinem Tisch.
    Ein Nachruf, in der Regel fünfspaltig, jede Spalte dreißig Zeilen lang, die Zeile zu achtunddreißig Zeichen, beschäftigt mich, je nach Zustand des Manuskripts, zwischen einer und drei Stunden. Ich nehme es genau, nicht nur in stilistischer und grammatikalischer Hinsicht, ich versuche mich hineinzubrüten in die Intention des Schreibers. Neun von zehn Texten, die ich in Form bringe, sind zu lang, ich muss sie kürzen, ich kürze und verdichte, das Kürzen ist meine Pflicht. Kürzen – aber was?
    Deshalb ist es mir so wichtig zu erfassen, was der Schreiber zum Ausdruck bringt. Was ist, in seiner Darstellung oft kaum zu durchschauen, was ist ihm unverzichtbar? Was verschweigt oder beleuchtet er aus welchem Grund? Welcher Wahrheit gibt er den Zuschlag? Denn die letzte Wahrheit über einen Menschen ist sein Nachruf. Die Wahrheit, die bleibt, heißt Nachruf.
    Der Nachruf währt am längsten.
    Ich setzte mich, statt fernzusehen, an meinen Tisch.
    ‹Keine Waffel?›, fragte Dagmar.
    ‹Danke›, sagte Anna.
    Albert schüttelte den Kopf. Er stand auf und trat ans Fenster, er sah hinaus, die

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