Nur Gutes
Hammondorgel in Lutterlob. Ich glaube, Mama weinte vor Freude. Manchmal durfte ich auf ihren Schoß, sie nahm meinen Finger, drückte ihn auf eine Taste, dann auf eineandere, immer schneller, immer schöner. Dann lud sie mich ein, meine kleinen Hände auf ihre zu legen, während sie spielte. Wie ich auf ihrem Schoß bin und Musik mache, das ist meine älteste Erinnerung, wahrscheinlich›, sagte Dagmar.
Anna fragte, ob Musikdosen schnell rosteten.
‹Was für eine Frage›, sagte Albert.
Eine Musikdose habe sie letzte Nacht in Paul Baumers Grab gesteckt.
‹Eine Musikdose?›, fragte Albert.
‹Ich trug keine Handschuhe, als ich die Musikdose in sein Grab steckte. So tief steckte ich sie ins Grab, dass nur noch die Kurbel zu sehen war, die kleine Kurbel, um sie aufzuziehen, die ganze Nacht lang, damit er ein bisschen Unterhaltung hat da unten, ein bisschen Spaß, wo er nun liegt, mein Vater. Bei den Würmern und Teufeln. Und dann, bevor der Boden gefror, steckte ich die Dose andersherum in die Erde, die Kurbel voran. Von der Spitze eines Berges eine in die Tiefe sah, / in der Mitte ihres Lebens eine erst am Anfang war, / auf dem Grunde eines Meeres eine in die Höhe sah, / aus der Mitte ihrer Fragen eine ohne Antwort war. Ein finnisches Lied, gespielt von einer finnischen Musikdose. Da sind meine Fingerabdrücke drauf, ganz bestimmt. Finnische liebte er am meisten, keine Ahnung weshalb. Die Kurbel voran steckte ich die Dose in sein Grab, damit er sie drehen kann und Musik hat, wenn ihm langweilig wird, meinemPapa, Kleiderhändler, Ehemann, Vater, Selbstmörder. An Handschuhe hatte ich nicht gedacht. Tut mir leid für alles, Herr und Frau Mangold. Tut mir leid, dass ich Simon auf Abwege brachte. Wir taten, was damals richtig war und heute lächerlich. Vielleicht schäme ich mich dafür. Ja, ich schäme mich. Wir waren Kinder, Rosa und Carlo, Rosita und Carlito. Ich muss lachen, wenn ich an die Rede denke, die wir in Simons Zimmer schrieben, die Rede des Bankdirektors, die der Banker halten sollte, damit er seine Frau wiederbekam, der Bankdirektor. Ich bin ein Lakai des hässlichen Kapitals, ein Meister der Verachtung von Mensch, Natur, Kultur. Deshalb bitte ich die Menschen um Vergebung für alles, was ich tat, ich bitte um Gnade für meine entführte Frau, was wäre ich ohne sie. Ich kann lachen darüber, aber ich kann nicht bereuen. In einer Stunde sind Sie mich los, Dagmar und Albert Mangold. Versprochen. Und niemand wird je wissen, wo ich diesen Sonntag war zwischen acht Uhr am Morgen und sieben Uhr am Abend. Keiner wird es je erfahren. Keine Angst.›
Albert setzte sich auf seinen Stuhl am hellen Tisch, er drückte die rechte Schulter zum Hals, bewegte die Schulter, hob langsam den Arm.
Schmerzt wieder die Schulter?, könnte Dagmar jetzt fragen -
Das Wetter, der Schnee, würde Albert antworten - Albert habe es mit der rechten Schulter, könnte Dagmar erzählen, keine Arthrose, Gott sei Dank, etwas an derKapsel, etwas Entzündliches, sogenannte Capsulitis, zu Beginn so schmerzhaft, dass man kaum schlafen kann, dann ständig weniger, aber unangenehm nach wie vor - Und Albert würde sagen: Irgendwann wird Schmerz gewöhnlich, früher, später -
‹Musikdosen, fürchte ich, rosten nicht schnell genug›, sagte Albert.
‹Sie haben ein Auto, nicht wahr?›, fragte Anna.
‹Wir haben ein Auto›, sagte Albert.
‹Und das steht in Ihrer Garage?›
‹In unserer Garage, ja.›
‹Und die Garage ist hier im Haus?›
‹Im Keller.›
Albert sah zu Dagmar, die auf dem Sofa saß, ihre Hände zwischen die Knie gesteckt.
Ich stand an meinem Tisch in meinem Zimmer und überlegte, noch einmal meine Eltern anzurufen und zu fragen, wer der Friedhofswärter sei, den man am Morgen fand, eine Kugel im Bauch. Dem Sohn eines Friedhofswärters, Moritz Franck, hatte ich einst aus einer Verlegenheit geholfen, und er mir, immer wieder, ich übernahm seine Strafaufgaben, das Schreiben fiel mir nie schwer. Moritz Franck konnte nicht ruhig sein in der Schule, ständig fiel er dem Lehrer ins Wort, störte, schwatzte, und der Lehrer, hilflos genug, befahl ihm Mal für Mal, aus Paulsen abzuschreiben, Geschichtsbuch eins, Seite hundertvier, von oben bis unten, Seite hundertvier: Als 88 v.Chr. derKonsul Sulla, ein radikaler Vertreter der Interessen der Besitzenden, mit seinem Heer nach Rom marschierte, die Stadt einnahm und die Popularen vertrieb, schien die Republik am Ende. Erstmals war ein Heer von einem Feldherrn gegen
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