Nur Mut, liebe Ruth
klebte die feuchte Erde.
Langsam und ganz zerschmettert machte sie sich auf den Heimweg.
Aber konnte sie denn so vor
ihre Eltern treten? Zugeben, daß sie es wieder nicht geschafft hatte? Nein, die
Blamage wäre zu schlimm gewesen. Doch noch einmal an dem großen Hund
vorbeizugehen, hätte sie um keinen Preis gewagt.
Sie überlegte und überlegte,
aber sie kam zu keinem Entschluß. Ob ihr vielleicht eine ihrer Freundinnen
raten konnte? Olga und Silvy waren zusammen mit ihren Eltern verreist, Leonore
war am Wochenende nicht von ihrer Familie loszureißen. Also blieb nur Katrin.
Als Ruth an Katrin mit dem
großen Mund und dem fröhlichen Lachen dachte, wurde ihr gleich besser. Ja,
Katrin würde ihr bestimmt helfen können.
Was für ein Glück, daß sie
nicht mehr, nur gerade so geduldet, mit ihrer Großmutter in der Villa des
Ehepaares Weikert lebte, wo man sie nicht besuchen konnte. Vor vierzehn Tagen
war sie mit ihrer Mutter und der Großmutter zusammen in eine Hochhauswohnung
gezogen und hatte den Freundinnen, um zu beweisen, daß alles seine Richtigkeit
hatte, sogar schon eine kleine Einweihungsparty gegeben. Das war nötig, denn
früher hatte Katrin so fürchterlich angegeben und geschwindelt, daß niemand ihr
mehr glauben konnte. Aber das war jetzt vorbei. Katrin hatte nichts mehr zu
verbergen, und seitdem hielt sie sich an die Wahrheit, jedenfalls in groben
Zügen. Selbst wenn sie hin und wieder noch ein bißchen übertreiben oder
schwindeln sollte, so störte das Ruth nicht im geringsten. Fest stand, daß
Katrin sich nicht leicht ins Bockshorn Jagen ließ, und das war in diesem Fall
die Hauptsache.
Hinter den Schrebergärten bog
Ruth nach links ein. Das schneeweiße schlanke Hochhaus, das wie ein Turm in den
blitzblauen Frühlingshimmel stach, war schon von weitem gut zu sehen. Aber es
dauerte doch noch eine gute Weile, bis sie die riesige, mit vielen grünen
Pflanzen geschmückte Eingangshalle betreten konnte.
Hier unten, im Hochhaus selber,
lagen viele schöne Geschäfte, aber Ruth hatte keine Zeit, die Auslagen zu
betrachten. Sie ging geradewegs auf den Lift zu, der sie unheimlich rasch in
das achte Stockwerk hinauf brachte, in dem Katrin mit ihrer Familie lebte.
Sie klingelte und war sehr
erleichtert, als ihr die Freundin persönlich öffnete.
„Menschenskind, wie siehst denn
du aus?“ rief Katrin. „Hat dich ein dringendes Bedürfnis überfallen, die traute
Heimaterde zu küssen?“
„Red bloß nicht so
geschwollen“, sagte Ruth, und vor lauter Selbstmitleid stiegen ihr schon wieder
die Tränen in die Augen.
Katrin tippte mit dem
Zeigefinger an Ruths Jacke. „Mir scheint, die Kruste bröckelt schon“, sagte
sie, „los, zieh dich aus, ich werde mal sehen, wieviel sich abbürsten läßt. Du
kannst inzwischen ins Bad gehen und versuchen, wieder eine Art Mensch aus dir
zu machen.“
Der rauhe Zuspruch half. Ruth
schluckte tapfer die aufsteigenden Tränen und ließ sich von Katrin, der stolzen
Wohnungsbesitzerin, in das kleine, aber piekfeine Bad führen. Noch ehe sie sich
Hände, Gesicht und Knie abgetrocknet hatte, klopfte Katrin schon wieder an die
Türe.
„Höre, staune, gute Laune!“
schrie sie. „Dein Kostüm ist wieder wie neu!“ Strahlend reichte sie Ruth das
Kostüm herein, das tatsächlich nur noch, wenn man ganz genau hinsah, einen
leichten braunen Schimmer über dem maigrünen Untergrund aufwies.
Ruth schlüpfte hinein.
„Du, soll ich dir mal das
Schönste an unserer Wohnung zeigen?“ fragte Katrin, und ohne eine Antwort abzuwarten
fuhr sie fort: „Man kann vom Badezimmerfenster auf Weikerts Villa sehen! Stell
dir das vor! Habe ich vor ein paar Tagen erst entdeckt.“ Sie riß das
Fensterchen auf. „Willst du mal sehen? Ich spucke jeden Tag mindestens einmal
runter.“
Ruth tat ihr den Gefallen, ließ
sich von ihr zum Fenster ziehen und blickte in die Tiefe. Man konnte von hier
aus die Südseite des Stadtwaldes erkennen und auch die Parkschule, die wie ein
leuchtend weißer Würfel mitten in all dem Grün lag.
Katrin nahm ihren Kopf in beide
Pfände und drehte ihn zur Seite. „Da hinüber mußt du gucken!“
Und da entdeckte Ruth, als sie
der Blickrichtung folgte, eine Sackgasse, die bis zum Stadtwald führte, den
Heckenrosenweg, und mit ein bißchen Phantasie konnte sie sich vorstellen, daß
das letzte Pfaus auf der Straße die Weikertsche Villa und der hellblaue Tupfen
daneben der Swimmingpool war. „Schon möglich“, sagte sie, „aber treffen kannst
du von
Weitere Kostenlose Bücher