Nur Mut, liebe Ruth
Blue jeans und einem Rollkragenpullover, Ruth klein und zierlich,
in ihrem eleganten, wenn auch nicht mehr ganz taufrischen Kostüm, Katrin mit
ihrem wehenden schwarzen Haar und Ruth mit ihrer blonden, komplizierten
Lockenfrisur, ja, sie ähnelten sich gar nicht, und doch verstanden sie sich
prächtig.
Das
Ungeheuer wird gebändigt
Sie waren schon einige Schritte
die Straße entlang gelaufen, als Katrin plötzlich stehenblieb. „Du, hör mal,
Ruth“, sagte sie, „es wäre, glaube ich, gar keine schlechte Idee, wenn ich
meine Mutter noch um Erlaubnis bitten würde.“
„Und wenn sie es dir nun
verbietet, mich zu begleiten?“
„Ausgeschlossen. Das Ganze ist
eine bloße Formsache“, sagte Katrin, und so affektiert wie nur möglich fügte
sie hinzu: „Aber der gebildete Mensch tut gut daran, stets die Form zu wahren!“
Sie lachte und gab Ruth einen kleinen Schubs. „Ich bin gleich zurück.“
Sie drehte sich um und lief
davon.
„Wo ist sie denn?“ rief Ruth
ihr nach.
„Beim Friseur!“
Ruth preßte die Lippen
zusammen. „Auch das noch“, sagte sie mißvergnügt.
Dabei war es ganz natürlich,
daß Katrins Mutter, die jetzt als Sekretärin in einer Kleiderfabrik arbeitete,
den Samstagnachmittag benutzte, um zum Friseur zu gehen. Wenn Frau Bär zu Hause
gewesen wäre, so hätte Katrin sich wahrscheinlich gar nicht so rasch bereit
erklärt, Ruth zu begleiten, vielleicht hätte es ihr die Mutter auch nicht
erlaubt. So hatte Ruth eigentlich allen Grund, sich über Frau Bärs
Friseurbesuch zu freuen, und sie sagte sich das auch selber. Aber sie konnte es
nicht verhindern, daß sie immer nervöser wurde, je länger Katrin ausblieb.
Sie schlenderte wieder zum
Hochhaus zurück, vor dem Portal liefen einige Kinder Rollschuh, ein Junge und
ein Mädchen, beide etwa acht Jahre alt. Sie beachteten Ruth nicht, sondern
alberten miteinander herum.
Eine Dame näherte sich dem
Eingang. Sie trug ein unauffälliges graues Kostüm mit einer weißen Bluse, dazu
schwarze Schuhe, schwarze Handschuhe und eine große schwarze Handtasche. Sie
wirkte so unscheinbar wie eine graue Maus, und doch fiel sie Ruth sofort auf,
weil das dunkle, leicht gewellte Haar, das ihr schmales helles Gesicht
umrahmte, eine Perücke war. Nicht jeder hätte das auf den ersten Blick gesehen,
aber Ruth, deren Eltern Friseurmeister waren, kannte sich da aus.
Nun war es für sie durchaus
nichts Besonderes, daß Damen sich die Haare färben ließen oder gar Perücken
aufsetzten, aber gerade zu dieser unscheinbaren Person schien so etwas gar
nicht zu passen.
Ruth sah näher hin und stellte
fest, daß sie graue Augen hatte und einen kleinen dunklen Fleck am Kinn, der
aussah wie ein sorgfältig gepudertes Muttermal. Ihr Alter war schwer zu
schätzen. Das Gesicht wirkte nicht mehr jung, aber der Hals war glatt und
faltenlos.
Schnurstracks kam die Dame auf
den Eingang zu, dann blieb sie stehen und betrachtete lange die Namensschilder
neben der Türe. Die beiden kleinen Rollschuhläufer kamen neugierig und wie zufällig
näher.
„Ich suche eine alte Frau“,
sagte die Dame.
Ruth, die nicht genau wußte, an
wen dieser Ausspruch gerichtet war, zog sich vorsichtshalber einige Schritte
zurück.
„Wie heißt sie denn?“ fragte
der Junge und drehte sich.
Darauf gab die Dame keine
Auskunft, sondern sagte: „Sie ist ziemlich alt und lebt ganz allein.“
„Hier in dem Haus“, sagte das
kleine Mädchen, „wohnen überhaupt nur junge Eltern.“
„Aber man hat mir diese Adresse
gegeben“, sagte die Dame, „und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß ihr alle
Leute in diesem Haus kennt.“
„Kann sein“, sagte das Mädchen,
„aber gesehen haben wir bestimmt schon alle, und so richtig alte Leute waren
nicht dabei. Sie deinen doch eine richtig alte Frau oder? Uralt?“
Die Dame lächelte. „Ja, uralt.“
„Ich hab’s!“ Der Junge machte
auf seinen Rollschuhen einen kleinen Hopser. „Das kann nur die alte Frau Bär
sein?“
„Aber die wohnt doch nicht
allein!“ sagte das Mädchen. „Doch tagsüber, wenn Katrin in der Schule und
Katrins Mutter zur Arbeit ist, ist sie immer allein.“
„Das nennt man aber nicht
allein leben“, widersprach das Mädchen, „wenn ich in der Schule bin, ist meine
Mutti auch allein, und trotzdem hat sie einen Mann und hat mich!“
Die Dame zog ein Notizbuch aus
ihrer schwarzen Tasche und kritzelte etwas hinein. „Danke“, sagte sie, „ihr
habt mir sehr geholfen.“
„Ist es nun Frau
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