Nur Mut: Roman
das doch. Da würde sie morgen improvisieren müssen.
Wenn sich solche Abweichungen vom Üblichen weiterhin häuften, könnte sie das minutiös geplante Säuberungspensum in ihrer kleinen Wohnung vor dem Eintreffen der Mutter nicht schaffen.
Zweifellos: Janina war ungehalten, weil sie befürchtete, infolge der Abweichungen vom Gewohnten zu spät nach Hause zu kommen. Jedoch: Ihre Beunruhigung ging über den Eigennutz hinaus. Janina war klug und vor allem empfindsam.
Sie mochte ihre Arbeit. Sie fand sich respektiert (sah man einmal von der Jungen ab. Aber die war hoffentlich nur eine vorübergehende Erscheinung.)
Janina hingegen gehörte gewissermaßen zum Haus, jedenfalls hatte sie die Planung und Ausgestaltung dieses Gemeinschaftslebens von Anfang an begleitet.
Die Chefin hatte ihre Villa in den letzten zehn Jahren Zug um Zug zu einer Altenbastion ausgebaut. Barrierefrei. Die Bäder waren behindertengerecht, die Treppen mit Liften ausgestattet. Im Eingangsbereich befand sich ein kleiner Fuhrpark: ein Rollstuhl, zwei Rollatoren und zwei Einkaufswagen.
Wichtiger aber, das hatte Janina bald erkannt, als diese sanitärtechnischen Hilfen war das Gerüst des Gemeinschafslebens, waren die geordneten Abläufe, waren die alltäglichen Routinen, das unausgesprochene Regelwerk der Chefin. Selbst in dem demonstrativen Rückzug der Verrückten lag dessen Anerkennung.
Janina spürte, dass die Gewohnheiten und die klaren Aufgabenverteilungen diesen Haushalt stabilisierten.
Und Janina spürte auch, dass schon kleine Irritationen und Regelwidrigkeiten Risse ins Fundament dieser Lebensform bringen konnten.
Was aber stand hinter diesen für sich genommenen harmlosen Abweichungen?
Janina nahm eine Witterung auf.
Dieser Herr von Rungholt!
Salon (kurz zuvor)
»… rennt los, kauft Torte und rüscht sich auf für so einen öligen Kerl, aber findet dreimal in der Woche ihre Windeln nicht«, sagte Johanna gerade.
»Unsinn«, sagte Leonie, »das mit den Windeln stimmt doch gar nicht. Sei bitte nicht so bösartig. Sie schien mir allerdings etwas neben sich zu sein.«
»Von wem sprecht ihr?«, fragte Charlotte, die Türe hinter sich schließend.
»Na, von wem wohl? Von unserer Textilprinzessin«, sagte Johanna.
Charlotte setzte sich. Sie wurde sehr ernst.
»Ich bin froh, dass Nadine gerade nicht anwesend ist. Ich wollte euch, speziell dich, Johanna, bitten, sie nicht so hart anzugehen und auch die kleinen Spitzen gegen ihre Modeallüren zu unterlassen.«
»Was ist los?«, fragte Leonie
»Da lag vorhin ein an sie adressiertes Schreiben auf dem Tischchen am Eingang. Es kam von ihrem Arzt. Auch sie muss den Brief, als sie das Haus verließ, dort gesehen haben.
Ich weiß, dass sie diesem Schreiben entgegengezittert hat. So verstört, wie sie mir eben erschien, nehme ich an, dass sie es inzwischen gelesen und daraufhin ihren Arzt aufgesucht hat. Es enthielt wohl die Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen. Nach den letzten Untersuchungen wies alles in die Richtung eines rezidiven Geschehens, aber sie hat wohl doch gehofft …«
»O Gott«, sagte Leonie.
»Scheiße«, sagte Johanna und sank noch etwas weiter in sich zusammen.
Charlotte sagte: »Ich habe neulich lange mit ihr gesprochen und ihr versichert, dass wir alle hier …«
Sie unterbrach sich, weil die Türe aufging und Nadine wieder in den Salon kam. Ohne eine von ihnen anzusehen, setzte sich abseits vor den großen TV-Schirm, nahm die Fernbedienung in die Hand und zappte sich durch die Programme.
Niemand sagte etwas.
Eine Hilflosigkeit breitete sich aus. Man konnte sie riechen.
Nicht denken, einfach nicht denken, dachte Johanna.
Ja, wenn das ginge.
Leonie nahm, um irgendetwas zu tun, die Zeitung wieder auf.
Johanna starrte leer aus dem Fenster.
Charlotte verließ den Raum.
Draußen
Jetzt konnte ein äußeres Geschehen doch Johannas Blick einfangen. Er folgte wie magnetisch gesteuert einem kleinen rundlichen Mann. Der trug einen Panamahut. Sein schmaler Schnurrbart wies an den Enden in die Höhe (was ihm den Anschein von Lustigkeit verlieh). Er hatte einen Zigarillo zwischen den Lippen und die Arme auf dem Rücken verschränkt. Obwohl seine Figur, speziell sein kleiner Kugelbauch, dagegensprach, besaß seine Erscheinung Grazie und Eleganz, so wie er da gemessenen Schritts auf der Uferpromenade promenierte. Ja, man musste wirklich sagen: promenierte. Sein Gang kam aus einer anderen Zeit. Seine ganze Erscheinung gehörte in eine andere Zeit, an einen
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