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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Bovenschen
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Charlotte leid. Sie ahnte, welche mindere Bedeutung ihm Dörte in ihren Zukunftsplänen einräumen würde. Und sie erahnte zudem das Ausmaß seiner Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die auch ohne Zahnweh bald schon Qualbeigaben haben würde. Sie konnte jedoch nicht ahnen, wie schnell dieser Zustand eintreten würde.
    »Sie sind ein enger Freund von Dörte?«, fragte sie (etwas tückisch).
    Flocke kam leicht ins Schleudern.
    »Na ja, ja und nein, ich sag mal so, eigentlich nicht so richtig eng, oder doch, ich meine, ich kenne sie schon eine ganze Weile, wir waren in der gleichen Clique, aber dann ist sie ja nicht mehr in der Schule erschienen, also da habe ich sie irgendwie aus den Augen verloren, weil … ich weiß ja auch nicht so genau, aber …«
    »Ich weiß von den Eskapaden meiner Enkelin«, sagte Charlotte trocken.
    »Ja, aber das ist vorbei. Wirklich, da ist sie durch. Das ist total überwunden. Sie hat es mir selbst gesagt, ja doch, eben erst hat sie das gesagt, sie hat gesagt, dass sie ein ganz neues Leben beginnen will. Ja, ich bin sicher, das schafft sie auch … ganz sicher … und …«
    Flocke hatte das eifrig fast beschwörend herausgestammelt, so als müsse er sich selbst überzeugen.
    »Warten wir es ab«, sagte Charlotte cool, aber sie war doch etwas gerührt. Der arme Junge sah sich ja als Dörtes Helfer und Beschützer.
    Aber es schien ihr, als wären da schon erste Rostflecken auf seiner schimmernden Rüstung, als ahne er die Vergeblichkeit seines edlen Vorhabens.
    Damit lag sie nicht falsch.
    Tatsächlich, Flocke hatte das Gefühl, als verzerre sich das über lange Zeit liebevoll ausgeschmückte und stetig verschönerte Bild von Dörte, seiner Göttin, der er in der Vergangenheit nie wirklich hatte näher kommen dürfen. Ihm war, als hätte diese Ikone seiner Lüste Schaden genommen, als falle es ihm immer schwerer, Bild und Wirklichkeit in ein geglücktes Verhältnis zu setzen. Hatte sie sich immer schon so seltsam verhalten? Hatte sie immer schon diesen idiotischen Kinderjargon draufgehabt?
    Aber, so wehrte er die kleinen Schmähfragen ab, diese bösen Zweifel verdankte er sicher nur den Zahnschmerzen.
    Da Flocke nichts mehr einfiel, was er zu Dörtes Großmutter noch hätte sagen können, und um seine Verlegenheit zu kaschieren, griff er in erzwungener Lässigkeit nach einem Buch, das neben ihm in Augenhöhe auf dem Kaminsims lag, so, als wolle er nur einmal nachsehen, um was es sich da handelte. Dann lachte er auf.
    »Das ist ja irre, so ein Zufall. Das Buch kenne ich. Ich habe es einmal gefunden in den Ferien. Vor zwei Jahren. Jemand hatte es in der Halle unserer Pension liegengelassen.«
    »Und Sie haben es gelesen?« Charlotte schien dies nicht recht glauben zu wollen.
    »Ja. Ich habe mich furchtbar gelangweilt in diesen Ferien, und da habe ich angefangen, es zu lesen. Aber ich habe es bald wieder weggelegt. Das war so irre, so eine komische Sprache und gar keine richtige Story, jedenfalls nicht fortlaufend. Total verschachtelt. Es gab immer neue Geschichten in Geschichten. Es hat sich irgendwie fortlaufend weiter verzweigt und zugleich ineinandergegriffen. Was soll das? Komische Figuren. Komische Sprache. Total bescheuert. Warum schreibt einer so etwas?
    Vorübergehend habe ich das Buch sogar richtig gehasst. Ich wollte es von der Klippe ins Meer schmeißen. Es hat mich dann aber nicht losgelassen. Verstehen Sie?«
    Ja, das verstand Charlotte. Sie nickte.
    »Ich kam nicht mehr raus, als hätte das Buch mich irgendwie in seine Geschichten eingewickelt. Auch wenn ich mich mit ganz anderen Dingen beschäftigt habe, musste ich an irgendein Geschehen oder irgendeinen der Typen aus dem Buch denken – und am Ende der Ferien hatte ich es dreimal gelesen. Dreimal! Verrückt, oder?«
    »Verrückt? Nein! Erstaunlich!«, sagte Charlotte. »Ich las es auch einmal. Das ist aber mehr als vierzig Jahre her. Ich habe nur noch eine atmosphärische Erinnerung. Keine leichte Kost. Sie sollten sich mit Johanna unterhalten. Sie könnte ihnen viel dazu sagen. Es ist eines ihrer Lieblingsbücher. Deshalb liegt es hier so griffbereit. Soweit ich mich erinnere, war es ein polnischer Adliger, der es an der Wende vom achtzehnten ins neunzehnte Jahrhundert geschrieben hat. In französischer Sprache. Ich meine, mich erinnern zu können, dass das Manuskript verschwunden war und man das Buch mühselig rekonstruieren musste. Aber ich bin mir nicht sicher. Wie gesagt, wenn Sie Genaueres wissen wollen, fragen Sie

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