Nur noch diese Nacht
aufgebaut und wonach er es ausgerichtet hatte, war gerade dabei, in sich zusammenzubrechen.
„Von damals in New York. Ich war zu deinem Apartment gefahren. Du hattest mich nach Abschluss der Uni wissen lassen, dass du nicht zurückkommst.“ Ryan presste die Lippen zusammen, atmete tief ein. „Ich hab einen Nachtflug genommen. Als ich zu deiner Wohnung kam, sah ich ihn. Du hast ihn bis in die Eingangshalle begleitet und ihn zum Abschied umarmt.“ Wenn ich da bloß gewusst hätte, dass sie gar nicht mit ihm geschlafen hat.
Doch wäre dann etwas anders gewesen? Selbst wenn es für Claire keinen anderen Mann gegeben hatte, auch ihn hatte sie nicht gewollt. Wie ein Dummkopf hätte er auf etwas gewartet, das es nie mehr geben würde.
Er verspürte einen vertrauten Stich im Herzen und ging in eine Ecke des Raumes, damit sie nicht sehen konnte, wie er reagierte, denn er wollte sich das ja nicht einmal selbst eingestehen.
New York. Natürlich erinnerte Claire sich daran und wusste, von wem Ryan sprach. Seit sie ihn verlassen hatte, war nur ein Mann über Nacht bei ihr geblieben. Aber er hatte auf der Couch geschlafen, nicht bei ihr im Bett. Und an Sex hatten sie nicht im Traum gedacht.
Unglaublich, Ryan hatte damals tatsächlich einen Nachtflug auf sich genommen, um mit ihr zu sprechen … und hatte dann ausgerechnet das mit angesehen! Wenn er zu ihr gekommen wäre, hätte sie alles erklären, ihm Schmerz und Enttäuschung, oder was auch immer er gefühlt haben mochte, ersparen können.
Nein. Es gab kein Was-wäre-wenn mehr. Dieses Spiel hatte sie sich vor langer Zeit abgewöhnt.
„Der Mann war Joe Nevin, ein guter Freund von mir. Er hat die Nacht tatsächlich bei mir verbracht, aber wir haben nicht …“ Claire verstummte. Sie konnte es nicht aussprechen. „Es war der Todestag seiner Frau, und er brauchte Beistand. Da er im Laufe des Abends zu viel getrunken hatte, habe ich ihn auf der Couch übernachten lassen. Aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, mit ihm zu schlafen.“
Ryan beobachtete ihr Spiegelbild in der Scheibe. „Meinetwegen?“
„Nein. Es lag an mir.“ In der Woche davor hatte man sie erneut in die Notaufnahme bringen müssen. Davon hatte sie Ryan nichts gesagt, und auch jetzt würde sie ihn damit nicht belasten.
Doch das war nur ein Teil der Wahrheit.
Claire legte die Arme um sich, sie wollte nicht daran denken, was sie vor wenigen Minuten bei Ryan empfunden hatte.
„Nach der Fehlgeburt bin ich in ein tiefes schwarzes Loch gestürzt. Alles in mir war tot. Ich konnte einfach nichts mehr empfinden, mir war alles gleichgültig. Meine Welt war nur noch grau.“ Unwillkürlich nahm sie eine kerzengerade Haltung ein. „Seit Jahren arbeite ich daran, wieder zu leben, statt nur zu existieren. Und ich habe es weitgehend geschafft. Aber in manchen Dingen …“ Sie atmete langsam ein, streckte matt die Hände aus.
„Aber dann bist du aufgetaucht, und ich weiß nicht, wie oder warum, aber auf einmal war es, als hätte sich bei mir ein Hebel umgelegt. Durch dich kann ich wieder etwas empfinden. Danach hatte ich mich gesehnt. Ich dachte, wenn du mit mir schläfst, wäre alles wieder wie früher.“ Das war nicht die ganze Wahrheit. Natürlich wusste sie, dass sie manches für immer verloren hatte. Aber von dem, was noch da war, konnte dies das letzte fehlende Teil sein.
„Und davon sollte ich nichts wissen.“
„Nein.“ Dieses Geheimnis hätte sie lieber gehütet, anstatt so viel von sich preiszugeben.
Ryan war anzusehen, dass die Wahrheit ihn schwer getroffen hatte. Verpflichtungen und Verantwortung hatte er nie auf die leichte Schulter genommen. Er hatte sie geheiratet, weil sie schwanger war, und hätte auch die schweren Zeiten mit ihr durchgestanden, wenn sie ihm die Möglichkeit dazu gegeben hätte. Verlassen hätte er sie auf keinen Fall, so weit kannte sie ihn.
An dem Tag in New York hatte sie Ryan ungewollt in die Freiheit entlassen. Und ihm war jetzt klar, dass er damals falsche Schlüsse gezogen hatte.
Claire streckte die Hände nach ihm aus – und ließ sie wieder sinken. Es war besser, sie ging jetzt. Erst als sie ihre Tasche aufnahm, bemerkte sie das Chaos, das sie hinterlassen hatten.
Mappen und Berichte lagen auf dem Fußboden verstreut, nur ein Blatt war auf dem „Scheidungszentrum“ liegen geblieben. „Ich hatte gedacht, wir könnten uns noch eine letzte Nacht schenken, etwas Wunderschönes – zur Erinnerung. Aber wie ich sehe, habe ich alles verdorben. Es tut mir
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