Nur wenn du mich hältst (German Edition)
den falschen Moment ausgesucht, um mittellos bei meiner Mutter vor der Tür zu stehen.“
Die folgende Stille fühlte sich sicher an. Wohltuend. In den vergangenen Minuten ist zwischen uns eine Freundschaft gewachsen, dachte sie. Sie spürte, dass er sie beobachtete. „Was?“ fragte sie.
„Wollen Sie jetzt eine Nackenmassage oder ist es dumm von mir, diese Frage zu stellen?“
Sie konnte ihn nicht aus den Augen lassen. „Sie sind nicht dumm.“
„Heute zumindest nicht.“ Er stand langsam auf.
Sie vergaß abzulehnen, denn sie wollte gar nicht ablehnen. Sein Blick hypnotisierte sie und ließ sie alle Worte vergessen. Sie stellte sich bereits vor, wie seine Hände sich anfühlen würden, da klingelte das Telefon, und die Intimität dieses Augenblicks zersplitterte in tausend Teile.
Das Geräusch brachte sie in die Gegenwart zurück, und sie griff nach dem Hörer.
„Hier ist Kimberly van Dorn.“
„Miss van Dorn, hier spricht Rourke McKnight vom Polizeirevier in Avalon.“
Kim runzelte die Stirn und befürchtete, es ginge um ihre Mutter. Sie schaute Bo an und spürte, wie sie sich nach einem Blick in seine Augen sofort wieder im Gleichgewicht befand. „Ja?“
„Ich rufe nur an, um etwas zu überprüfen“, sagte Chief McKnight. „Es geht um einen Ihrer Gäste.“
15. KAPITEL
Der New Yorker Hauptbahnhof musste immer als Beispiel herhalten, wenn jemand einen wirklich geschäftigen Ort beschreiben wollte. Das ist hier ja wie auf dem Bahnhof, sagten die Lehrerinnen an seiner alten Schule häufig.
Der echte Hauptbahnhof, die Grand Central Station, entsprach diesem Bild bis ins kleinste Detail. Er erinnerte AJ an einen Ameisenhügel, in dem die Ameisen in alle Richtungen eilten.
Er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte, doch er wusste, dass es ihn in Schwierigkeiten bringen könnte, wenn er herumstand und verloren wirkte, deshalb schloss er sich einer Gruppe an, die zu einem der Ausgänge strömte. An einer Wand sah er eine ganze Reihe Münzfernsprecher. Die benutzte heute kaum noch einer, außer Leute, die sich kein Handy leisten konnten. So wie er.
Um die Telefone herum klebten Aufkleber, die Kautionsagenturen anpriesen und Hotlines für Selbstmordgefährdete, Drogenabhängige und Ausreißer. Ein Knoten bildete sich in seinem Magen, verband sich mit dem Kloß aus Traurigkeit in seiner Kehle und der Sehnsucht, die in seiner Brust brannte. Zusammen sorgten diese Gefühle dafür, dass ihm fürchterlich schlecht wurde, also folgte er den Zeichen zu den Herrentoiletten.
Ein paar Typen unterbrachen ihre Unterhaltung und funkelten ihn grimmig an. Das veranlasste ihn, seine Meinung zu ändern und die Toilette so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Er schaute sich nach jemandem um, den er um Hilfe bitten konnte, aber plötzlich kamen ihm alle Menschen zwielichtig vor. Eine Gruppe Teenager kam durch einen der Eingänge, und ein paar von ihnen checkten ihn ab. Er fühlte ihre Blicke aus zwanzig Metern Entfernung, und irgendetwas sagte ihm, dass sie nicht so waren wie der Mann, der neben ihm im Zug gesessen hatte. Er versuchte sich cool zu geben, kniff die Augen leicht zusammen, imitierte den lässigen Schlendergang der Gangmitglieder von seiner alten Schule und ging nach draußen ans Tageslicht. Vor ihm lag eine viel befahrene Straße mit lauter gelben Taxen und Lieferwagen. Hupen, Trillerpfeifen und Rufe dröhnten durch die Luft, die nach Abgasen roch.
Obwohl kein Schnee lag, fühlte sich die Umgebung kalt an. Er hätte niemals herkommen dürfen. Kindern, die in große Städte wegliefen, passierten schlimme Dinge.
Andererseits – was konnte schlimmer sein, als seine Mutter zu verlieren?
Wenigstens passte er hier ein wenig besser hinein. Es gab unzählige Menschen mit dunkler Hautfarbe – Straßenbauarbeiter in blauen Overalls, Bauarbeiter mit Bauhelmen auf Gerüsten, Männer und Frauen, die sich um die Kaffeewagen am Straßenrand drängten. Während er die Straße entlangwanderte, hörte er ab und zu spanische Sprachfetzen – nur ein Hauch, wie der Duft von Hotdogs, der in der Luft lag.
Er holte den Zettel aus seiner Tasche, den er an Bos Computer ausgedruckt hatte. Es handelte sich um eine Adresse in New York City: Casa de Esperanza . Das Haus der Hoffnung. Obwohl er seinen Ausflug nicht geplant hatte, hielt er sich an diesem Ausdruck fest. Irgendwie wusste er, dass das wichtig war. Im eiskalten Wind zitternd, der durch die Häuserschluchten fegte, schaute er noch einmal die Adresse
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