Nur wenn du mich hältst (German Edition)
ihrer Mutter im Sommer vor zwei Jahren verändert hatte, als sie ihren Ehemann verlor. Der Kontrast zwischen Manhattan und der winterlichen Wildnis in den Catskills war extrem scharf. Dennoch beschlich sie das Gefühl, dass sie Penelope Fairfield van Dorn nicht wirklich gut kannte. Sie hatte sich nie die Mühe gemacht, hinter die Fassade zu schauen. Wie alle anderen hatte sie sich mit dem zufriedengegeben, was auf den ersten Blick zu erkennen war.
Und wenn ich hier sonst nichts hinkriege, nahm Kim sich vor, wenigstens das kann ich wiedergutmachen. Sie würde ihrer Mutter helfen, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen. Jetzt verstand sie auch, wieso die sie nie gedrängt hatte, sie zu besuchen. Sie hatte sie nicht mit dem Wissen um ihre wahren Lebensumstände belasten wollen, hatte die Erinnerungen ihrer Tochter an den Vater nicht mit so etwas Unangenehmem wie der Wahrheit vergiften mögen.
Nichts geschah ohne Grund. Sie würde alles tun, was nötig war, um ihrer Mutter zu helfen. Wenn das bedeutete, in einen kleinen Ort in den Bergen zu ziehen und die Ärmel aufzukrempeln, dann sollte es so sein. Das war zwar kaum das Leben, das sie für sich geplant hatte, aber ihre eigenen Ziele und Pläne und die harte Arbeit der vergangenen Jahre hatten in eine Sackgasse geführt. Sie war vom Drang getrieben gewesen, ihrem Vater zu imponieren, seine Reputation noch heller strahlen zu lassen, indem sie sich einen Namen machte. Auf gewisse Weise war das genau das, was sie für ihre Kunden tat – sie ließ sie gut aussehen. Ganz offensichtlich hatte diese Strategie jedoch einen Fehler.
Sie würde hier vermutlich nicht die Antwort auf ihre Träume finden, aber womöglich käme etwas wesentlich Kostbareres dabei heraus – die Chance, ihrer Mutter näherzukommen und dem einzigen Menschen, der sie jemals bedingungslos geliebt hatte, etwas von dieser Liebe zurückzugeben. Und vielleicht, wenn sie sehr viel Glück hätte, würde sie einen Weg für sich entdecken, der nicht geradewegs in die nächste Katastrophe führte.
4. KAPITEL
Bo musste einige Papiere unterzeichnen, bevor ihm der unbegleitete Minderjährige offiziell übergeben wurde.
„Bis zum nächsten Mal, AJ“, sagte die Stewardess und reichte ihm Kopien der Unterlagen.
Ohne die dunkle Uniform und unter anderen Umständen hätte er die Frau durchaus attraktiv gefunden, hätte vermutlich mit ihr geflirtet, ihr einen Drink spendiert – den er im Moment nötiger brauchte als jemals zuvor.
Sie schenkte ihm ein Lächeln, das andeutete, dass sie einem solchen Angebot gegenüber aufgeschlossen wäre. Die meisten Frauen mochten ihn. Doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt für einen Flirt.
„Er hat das fabelhaft gemacht“, sagte die Stewardess. „Sie müssen sehr stolz auf Ihren Sohn sein.“
Bo nickte nur, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Was gab es da schon zu sagen? Seit zwölf Jahren war dieses Kind auf der Welt, sein eigen Fleisch und Blut, und heute sah er es das erste Mal. Er hatte keine Ahnung, was AJ dachte. Sein Sohn sah ihn an wie einen Fremden oder zumindest wie einen sehr entfernten Verwandten. Was ihn ziemlich genau beschrieb – er kam anderen Leuten nicht sonderlich nahe.
Die ganze Situation war total verkorkst.
Der Junge konnte jedoch nichts dafür, deshalb schenkte Bo der Stewardess sein entwaffnendstes Lächeln und sagte, „Ja, Ma’am, das bin ich.“
Sie überprüfte erneut die Dokumente aus AJs Brustbeutel und reichte ihm dann eine Quittung, als hätte er gerade einen Wagen gemietet. „Jetzt ist alles so weit klar. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und danke, dass Sie mit uns geflogen sind.“
Bo nickte und steckte den Zettel in die Jackentasche. „Zur Gepäckausgabe geht es da entlang“, sagte er und zeigte auf das entsprechende Zeichen.
Sie gingen los und behielten dabei einen beträchtlichen Abstand zwischen sich bei, wie zwei Fremde, die sie ja auch waren. Er musterte den Jungen. AJ war klein, also wirklich klein. Bo wusste nicht, wie groß ein Zwölfjähriger sein sollte, aber er war sich ziemlich sicher, dass AJ ein wenig mickerig war.
Als sie an einem Mülleimer vorbeikamen, nahm AJ den Brustbeutel ab und warf ihn hinein.
„Hey, ich wünschte auch, wir hätten uns bei einer anderen Gelegenheit kennengelernt“, sagte Bo. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.
Keine Reaktion. Vielleicht stand der Junge unter Schock. Das wäre nur verständlich. Immerhin war dies vermutlich der beängstigendste Tag
Weitere Kostenlose Bücher