Nur wenn du mich hältst (German Edition)
auch im Camp Kioga gewesen?“
Daphne lachte, doch es klang seltsam humorlos.
„Honey, ich war nie jünger. Nur dass du es weißt, ich hole meine Kindheit jetzt nach, weil ich sie im ersten Anlauf verpasst habe.“
Kim rührte ein halbes Päckchen Süßungsmittel in ihren Kaffee und warf Daphne, die auf einem Hocker an der Küchentheke saß und Beerenmüsli aus einer gelben Schüssel aß, einen Blick zu. Mit den gewagten Gesichtspiercings und den rosa gesträhnten Haaren sah sie aus wie ein Punkrocker. Ein angenehmer Kontrast zu ihren geschniegelten Freunden aus L.A. Skurril, aber ehrlich.
Daphne fischte einen kleinen Klarsichtbeutel aus ihrer Müslischüssel. „Ja! Ich liebe es, wenn ich den Preis erwische.“ In Anbetracht der Müslisorte, die sie aß, hatte sie in diesem Wettbewerb vermutlich nicht viele Konkurrenten im Haus. Sie wischte das ergatterte Spielzeug mit einer Serviette ab. „Eine Trollpuppe“, sagte sie und hielt sie wie eine Trophäe in die Luft. „Gott, ich liebe diese Dinger.“
Kim strich über ihr Haar und verspürte eine ungewollte Ähnlichkeit mit dem Troll. Sie hob ihre Kaffeetasse zu einem Toast. „Auf die Freuden der Kindheit.“
„Zumindest an den Wochenenden“, ergänzte Daphne.
„Was tust du während der Woche?“ Sie stellte sich vor, dass Daphne auf einer Rollschuhbahn arbeitete oder durchs Internet surfte und Anime-Seiten mit Lesezeichen versah.
„Ich arbeite in einer Rechtsanwaltskanzlei im Ort. Sie liegt über dem Buchladen. Ist ganz okay. Samstage mag ich jedoch lieber. Bugs Bunny von vorne bis hinten, verstehst du?“
Kim lächelte. „Geht mir auch so. Was ist das für eine Kanzlei?“
„Parkington, Waltham & Shepherd. Eine Full-Service-Kanzlei. Ich bin Rezeptionistin und Office-Managerin.“ Daphne hob die Schüssel an den Mund und trank einen Schluck. Als sie die Schale wieder abstellte, hatte sie einen Milchbart. „Du kannst dich also entspannen. Deine Mutter betreibt hier keine Pension für Durchgeknallte. Die Gäste sind ganz normale Leute, die bloß leben wollen.“
„Ich bin entspannt.“
„Ach was. Ich habe dein Gesicht gesehen, als deine Mom uns einander vorgestellt hat. Du hast dir Sorgen gemacht, dass ich mich als Ein-Frau-Freakshow herausstellen könnte“, sagte Daphne leichthin. „Das tun die meisten Menschen, wenn sie mich das erste Mal sehen. Aber glaub mir, ich bin vollkommen normal. Nur – wie schon gesagt – hole ich jetzt meine Kindheit nach. Ich bin das älteste von fünf Geschwistern. Meine Mom ist krank geworden, und mein Dad ist immer wieder mal abgehauen, also musste ich meine Brüder und Schwestern großziehen. Das ist mir nicht sonderlich gut gelungen, was vermutlich daran liegt, dass ich anfänglich gerade einmal elf Jahre alt war. Deshalb will ich auch keine Kinder haben. Ach was, ich will nicht mal eine eigene Wohnung haben.“
„Weil du deine Kindheit verpasst hast?“
„Genau.“ Daphne brachte ihre Schüssel und den Löffel zur Spüle und nahm sich den Krug mit Orangensaft. „Ich habe beschlossen, sie jetzt nachzuholen, und deshalb wohne ich hier, wo ich mir keine Gedanken über Verantwortlichkeiten machen muss. Dazu gehören Grundsteuern, Nebenkostenabrechnungen, das Zubereiten von Mahlzeiten und langfristige Verpflichtungen.
Kim starrte sie ein paar Sekunden lang an und musterte die dunkle Wollstrumpfhose, den engen Lederrock, die Doc Martens und die schwarz lackierten Fingernägel. Daphne sah so zufrieden mit sich aus.
„Guter Plan“, sagte sie. „Ist noch ein Schluck Orangensaft da?“
Daphne schenkte ihr ein Glas ein. „Willst du Müsli?“, fragte sie und hielt ihr die Schachtel hin.
„Nein, danke. Ohne den Preis ist es doch sinnlos.“
Daphne grinste. „Ich mag deine Art zu denken.“
Kim erwiderte das Grinsen. Es war schön, wie leicht und entspannt sie sich mit Daphne fühlte.
„Guten Morgen!“
Ihre Mutter rauschte in die Küche. Sie sah frisch aus und jünger, als sie war. Zu einem Fair-Isle-Pullover trug sie Jeans und Ugg Boots. Genauer betrachtet sah Penelope sogar jünger aus als früher in ihren St.-Johns-Anzügen und mit Perlenkette. Während sie sich eine Schürze umband, fragte sie: „Und, hast du gut geschlafen?“
„Ziemlich gut.“ Kim nippte an ihrem Kaffee. „Ich bin gefeuert worden. Per E-Mail.“
„Das ist fies“, sagte Daphne.
„Feige“, ergänzte ihre Mom.
„Sie sind nicht feige. Ich bin nur einfach nicht wichtig genug, um ihnen Angst zu machen. So ist es für
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