Nur wenn du mich hältst (German Edition)
Bewohner Gäste, aber das waren sie nicht, zumindest nicht im eigentlichen Sinne. Sie waren nicht eingeladen worden, und sie blieben wesentlich länger als nur ein paar Tage. In Wahrheit war dies ein Haus voller zahlender Fremder. Ihre Mutter schwor, dass sie nur Leute aufnahm, die ihr empfohlen wurden und untadelige Referenzen aufweisen konnten. Bo war von Dino empfohlen worden, dem Penelope vollkommen zu vertrauen schien.
Trotzdem glaubte Kim nicht, sich jemals an dieses Arrangement gewöhnen zu können. Genauso wenig wie an die dünne Grenze zwischen Intimität und Privatsphäre. Aber das war auch nicht ihre Aufgabe. Solange sie hier wohnte, war sie ein Mitglied dieses Haushalts und spielte nach den Regeln ihrer Mutter.
Sie überlegte, was wohl in Bos Referenzen stünde. Ein Naturtalent im Baseball und beim Flirten .
Ein Mann mit einem Kind und offensichtlich ohne Frau.
Sie öffnete die Tür zur obersten Etage und trat beiseite. Ein wenig fühlte sie sich wie ein Hotelpage, als sie die beiden einzutreten bat. Der Raum war erfüllt von weichem Licht, das vom Schnee auf dem Dach reflektierte. Der Lichteinfall durch die Giebelfenster erinnerte sie an längst vergangene Augenblicke, als sie dort gesessen, in den Wintertag hinausgeschaut und sich vorgestellt hatte, eine Schneeflocke aus dem „Nussknacker“-Ballett zu sein, eine Bewohnerin eines verzauberten Königreichs. Sie fragte sich, ob AJ das auch tun würde, oder ob er für Kinderfantasien schon zu alt war.
Der Raum war L-förmig. In einem Alkoven stand ein Doppelbett, ein weiteres Bett befand sich um die Ecke. Dazu gab es eine Couch, einen Schreibtisch und einen kleinen Fernseher sowie ein Bad.
„Sind das unsere Zimmer, Ma’am?“, fragte AJ.
Sie lächelte den Jungen an und wandte Bo den Rücken zu. „Du darfst mich Kim nennen“, sagte sie.
„Ja, Ma’am, Kim.“
„Ah, ich schätze, du musst aus Texas sein. Jungen aus Texas sagen sehr oft Ma’am.“
„Ja, Ma’am.“
Er schenkte ihr das erste Lächeln, seitdem er das Haus betreten hatte, und dieses Lächeln raubte ihr den Atem. Es war, wie am dunkelsten Tag des Winters einen Blick auf die Sonne zu erhaschen – selten und strahlend, befeuert von einem unbezwingbaren Geist. Als er merkte, dass sie ihn anschaute, wurde er schnell wieder ernst.
„Das sieht sehr hübsch aus“, sagte Bo. „Genau richtig.“
Also hat er seine Entscheidung getroffen, dachte sie und wurde von einem nervösen Schauer erfasst.
„Wie wäre es, wenn du deine Sachen schon mal wegräumst, AJ, und ich den Rest aus dem Auto hole?“, fragte er.
AJ nickte, ohne ihn anzuschauen, und stellte seinen Rucksack auf einen Stuhl. „Okay.“
„Siehst du das Bücherregal?“, fragte Kim, um die Spannung zu lösen, die sich zwischen den beiden auf einmal gebildet hatte. „Da stehen alle meine Lieblingsbücher von früher drin. Unter anderem die von Matt Christopher. Meine Freunde haben mich immer für verrückt gehalten, weil ich alle seine Bücher hatte.“
„Warum ist das verrückt?“
„Weil es darin nur um Sport geht, und ich schätze, die meisten Leute glaubten nicht, dass ein Mädchen sich für Sportgeschichten interessiert. Aber das tat ich – und das tue ich heute noch. Wie steht’s mit dir?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich mag Sport nicht sonderlich.“
In dem Augenblick betrat Bo Crutcher beladen mit Koffern den Raum. Seine Wangen waren von der Kälte rot, seien Augen noch blauer als vor ein paar Minuten.
„Hey“, sagte er. „Ich dachte, du kannst nur Baseball nicht leiden.“
AJ verspannte sich und schüttelte sich das glänzende Haar aus dem Gesicht. „Ich mag gar keinen Sport“, sagte er. „Und das ist ja wohl kein Verbrechen, oder?“
Bo betrachtete ihn liebevoll und ignorierte seine abweisende Haltung. „Natürlich ist das kein Verbrechen, aber eine Überraschung. Ich lasse mich hin und wieder gerne überraschen.“
AJ nickte. „Okay.“
Interessant, dachte Kim, während sie die beiden beobachtete. Sie benahmen sich wie Fremde, und wenn sie glaubten, der andere würde es nicht sehen, musterten sie einander mit hungrigen Blicken. Sie zeigte AJ einen Sport- und Spaßführer der Gegend. „Man kann hier viel unternehmen“, sagte sie und breitete die bunte Landkarte aus. „Das ist der Golfplatz, Avalon Meadows. Im Winter wird er zum Skilanglauf und zum Schlittenfahren benutzt.“ Sie tippte auf den Saddle Mountain am westlichen Stadtrand, auf dem die Skipisten und Skilifte
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