Nur Wenn Du Mich Liebst
»Ich weiß nicht, wie meine Mutter das geschafft hat. Sie war immer so ruhig, so gerecht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie einmal wütend oder laut geworden ist.« Susan schüttelte verwundert den Kopf. »Ich strenge mich so an, so zu sein wie sie.«
»Sei einfach du selbst.«
»Ich brülle immer nur rum. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter mich je so angebrüllt hätte wie ich Ariel.«
»Das liegt daran, dass du nicht deine Mutter bist und Ariel nicht du. Es ist eine vollkommen andere Dynamik. Glaub mir, ich wette, deine Mutter hat Diane oft genug angebrüllt.«
»Meinst du?«
»Du bist eine tolle Mutter, Susan. Hör auf, so streng gegen dich selbst zu sein.«
»Ariel hasst mich.«
»Natürlich hasst sie dich. Das ist ihr Job.«
Susan lächelte dankbar und lehnte sich an Vicki, die ihren Arm um sie legte. »Ich bin so froh, dass du hier bist.«
»Ich auch.« Vicki küsste Susan auf den Kopf.
Gemeinsam wiegten die beiden Frauen sanft hin und her, und nur das Geräusch ihres Atems erfüllte den Raum. Nach und nach nahm Susan auch andere Stimmen und Menschen wahr – ein Pärchen, das flüsternd in der gegenüberliegenden Ecke saß, ein Mann, der durch eine Bademoden-Sonderausgabe von
Sports Illustrated
blätterte, eine Frau, die versuchte, ein Buch zu lesen, obwohl ihre Augen von einem stetigen Tränenstrom verschleiert waren. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Du wirst es schon schaffen.«
»Ich bin noch nicht bereit, sie gehen zu lassen.«
»Ich glaube nicht, dass Kinder je bereit sind, ihre Eltern gehen zu lassen«, stimmte Vicki ihr zu, und in ihrer Stimme lag eine Traurigkeit, die Susan von ihr gar nicht kannte. »Ich könnte jetzt wirklich eine Tasse Kaffee gebrauchen. Was ist mit dir?«
»Okay«, willigte Susan ein. »Viel Milch, kein Zucker.«
»Ich bin gleich wieder da.«
»Ich gehe zu meiner Mutter rein.«
Susan blickte Vicki nach, bis sie verschwunden war, stemmte sich aus ihrem Stuhl hoch und ging den stillen Flur hinunter. Ihr Verstand hatte den stetigen Geräuschpegel eines Krankenhauses längst ausgeblendet – das Klingeln und das Klappern der Wagen, die durch die Gänge geschoben wurden, Ankündigungen über Lautsprecher und stöhnende Patienten hinter halb geschlossenen Türen –, so wie das Pfeifen eines Zuges ungehört in der Ferne verhallte.
Vor der Tür des Zweibettzimmers ihrer Mutter zögerte sie aus Furcht, was sie dahinter erwartete. Dann ging sie langsam hinein. »Hallo, Mrs. Unger«, sagte sie zu der weißhaarigen Frau mit dem netten Gesicht, die in dem anderen Bett lag. Die Frau lächelte, obwohl ihre Augen starr glänzten wie die eines Menschen, der nicht wusste, wer er war. »Hi, Mom.« Susan setzte sich auf einen der beiden Stühle neben dem Bett ihrer Mutter, doch sie brauchte noch einen Moment, bevor sie es schaffte, sie auch anzusehen. Sie fürchtete den Anblick ihrer mattgrauen Gesichtsfarbe, der Haut, die so straff gespannt war, dass sie zu zerreißen drohte, der Augen voller Verwirrung und Schmerz. Doch die Augen ihrer Mutter waren geschlossen, und ihre Miene wirkte entspannt. Susan stockte der Atem, als sie vergeblich versuchte, ihren Atem zu hören.
Erst als sie ihre Mutter unter den Laken zucken sah, wusste sie, dass sie noch lebte. Susan schob ihre Hand unter die Decke und legte sie auf die bebenden Finger ihrer Mutter, obwohl sie selbst zitterte. Sie küsste die knochentrockene Stirn ihrer Mutter und verrutschte dabei die Perücke, sodass sie ihr wie eine schräg aufgesetzte Baskenmütze auf dem Kopf saß. Susan erinnerte sich an das natürliche Haar ihrer Mutter, bei dem jede Strähne von einer Wäsche zur nächsten auch ohne Aufbürsten in Form geblieben war. Die Haare ihrer Mutter waren eines der Wunder ihrer Kindheit gewesen, und nun versuchte sie, die Perücke zurechtzurücken, ohne ihre Mutter zu stören. Sie ließ sich in den Stuhl zurücksinken und suchte eine bequeme Sitzhaltung. »Kenny kommt heute Abend aus New York. Und mit Diane habe ich auch gesprochen. Sie kommt, sobald sie kann. Das heißt, du wirst besser schnell wieder munter.« Susan schluckte ihre Tränen herunter. »Du weißt ja, wie Diane mit Kranken ist.«
»Diane kommt?«, fragte ihre Mutter, ohne die Augen zu öffnen und die Lippen zu bewegen.
War es möglich, dass Susan sich ihre Frage nur eingebildet hatte? »Ja, Mom, sie versucht gerade, alles zu organisieren.«
»Dann muss ich wirklich sehr krank sein«, sagte ihre Mutter, und ihre
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