Nur Wenn Du Mich Liebst
anzurufen.«
Susan sah ihren älteren Bruder und ihre jüngere Schwester vor sich, die Schildkröte und der Hase, wie ihre Mutter sie einmal scherzhaft genannt hatte. Kenny war groß, stämmig und phlegmatisch, wohingegen die hagere, drahtige Diane nicht länger als ein paar Minuten still sitzen konnte. Während sich Kenny langsam und methodisch durch die verschiedenen Stadien seines Lebens bewegte, schien Diane ob all ihrer überschüssigen Energie ständig im Kreis zu laufen. Immer auf der Flucht, dachte Susan jetzt und erinnerte sich daran, wie ihre Schwester vor ihr weggelaufen war, als sie, die Beine voller Egel, aus dem Wasser gekommen war. Und daran hatte sich in den folgenden Jahrzehnten wenig geändert. Ihre Schwester floh immer noch vor der leisesten Andeutung irgendwelcher Unannehmlichkeiten.
»Als ich das letzte Mal mit Diane gesprochen habe, hat sie gesagt, dass sie Mom liebend gern besuchen würde«, erklärte Susan Vicki, »dass es jedoch im Augenblick für sie ein ganz schlechter Zeitpunkt wäre. Ich glaube, der Mond oder irgendwas stand im falschen Planeten.«
»Ich könnte doch versuchen, sie jetzt zu erreichen«, bot Vicki an.
Susan kritzelte die Nummer ihrer Schwester in Los Angeles auf ein Stück Papier, das sie in ihrer Handtasche fand, und gab es Vicki, die damit zu dem Münztelefon am anderen Ende des Flures ging. Die Ärmste, dachte Susan, sie hat ja keine Ahnung, was ihr bevorsteht.
Diane gehörte zu den Menschen, die glaubten, der Tod sei ansteckend. Als ihr Mann vor fünf Jahren an einem plötzlichen Herzinfarkt im Schlaf gestorben war, hatte Diane nicht nur die Laken, sondern das ganze Bett rausgeschmissen, unverzüglich ihr Haus in Westwood zum Verkauf angeboten und war in ein kleines Holzhaus in den Hügeln von Hollywood gezogen. Kinder gab es keine, weil sie stets davon überzeugt gewesen war, im Kindbett zu sterben; dementsprechend weigerte sie sich auch zu fliegen, weil sie absolut sicher war, dass das Flugzeug abstürzen würde. Sie fuhr sogar äußerst ungern über Brücken.
»Ich glaube, die Ärzte gehen nicht davon aus, dass sie noch so lange lebt«, hörte Susan Vicki leise in den Hörer sagen. »Nein, das verstehe ich. Es ist nur...«
Susan atmete tief ein und zwang sich aufzustehen. Ihre braune Baumwollhose klebte an dem Plastiksitz ihres Stuhles und machte beim Ablösen ein obszön saugendes Geräusch. »Ich rede wohl besser selber mit ihr«, flüsterte sie Vicki zu. Vicki mochte ein Genie im Umgang mit gerissenen Verbrechern und cleveren Staatsanwälten sein, doch mit jemandem wie Diane hatte sie wahrscheinlich noch nie zu tun gehabt.
»Du weißt, wie gerne ich dort wäre«, jammerte Diane los, sobald Susan den Hörer übernommen und sie begrüßt hatte. »Es ist nur so, dass es im Moment ein echt schlechter Zeitpunkt für mich ist.«
Susan schluckte ihren Ärger herunter und sagte schlicht: »Viel Zeit bleibt nicht mehr.«
»Findest du nicht, dass du einen Tick melodramatisch bist?«
Susan hatte das Wort Tick schon immer gehasst und musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut loszuschreien.
»Ihr Zustand ist seit Monaten unverändert«, beharrte Diane.
Susan hörte, wie ihre Schwester an ihrer unvermeidlichen Zigarette zog. »Diesmal ist es anders.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Weil ich jeden Tag hier bin.«
»Und ich nicht, ist es das? Geht es im Grunde darum?«
»Es geht um deine Mutter«, sagte Susan langsam und stellte sich die Asche an Dianes Zigarette vor, die lang und länger wurde, bis sie abbrach und sich wie Staub in der Luft verteilte. »Und die stirbt.«
»Sie wird sich schon wieder erholen.«
»Sie wird sich nicht mehr erholen.«
»Du bist bloß stur.«
»Und du bist begriffsstutzig.«
»Leg auf«, riet die neben Susan stehende Vicki ungeduldig. »Das ist doch reine Energieverschwendung.«
»Wer war das?«, wollte Diane wissen. »Hat sie gerade gesagt, du sollst auflegen?«
»Diane, ich muss Schluss machen.«
»Also, ich will sehen, was sich machen lässt«, sagte Diane unwillig und atmete eine große Rauchwolke in Susans Ohr.
»Das wäre super«, sagte Susan und legte auf.
»Ein wirklich charmantes Mädchen«, meinte Vicki.
Susan lachte und dachte an ihre ältere Tochter. »Eins gibt es vermutlich in jeder Familie.«
»Macht Ariel dir das Leben immer noch schwer?«, fragte Vicki, als könnte sie in Susans Gedanken lesen.
Susan zuckte die Achseln und ließ sich wieder auf einen Stuhl in dem Warteraum sinken.
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