Nur Wenn Du Mich Liebst
immer so auf die Feiertage gefreut hatte? Der Verlust von Chris war wie eine Amputation gewesen. Das Bein war vor Jahren abgetrennt worden, doch der Phantomschmerz quälte sie bis heute.
Das würde auch erklären, warum sie anfing, Gespenster zu sehen. Als sie Saks mit Weihnachtsmusik in den Ohren verlassen hatte und auf der anderen Straßenseite einen Fremden sah, dessen Gesicht halb im Kragen seiner dicken Jacke verborgen war, spielte ihr Verstand ihr einen Streich. Die Gedanken an Chris wirbelten noch durch ihren Kopf wie die Schneeflocken, die ihr der Wind in die Augen wehte, und plötzlich malte die grelle Sonne Tonys Züge auf das Gesicht dieses Fremden, der kurz darauf in der Menge verschwand. Die Erscheinung verblasste ebenso schnell wieder, wie sie aufgetaucht war.
Natürlich war es nicht Tony.
Doch dann war er plötzlich wieder da, als sie mit dem Wagen von dem Parkplatz hinter der Post an der Ecke 5th und Main Street kam. Und diesmal war er es unverkennbar – ein gemeiner, bösartiger, kleiner Mann. »Mein Gott«, hauchte Barbara mit klopfendem Herzen, und ihr Atem beschlug die Windschutzscheibe. »Was soll ich jetzt machen?«, flüsterte sie, bremste ab, fuhr im Schritttempo weiter und senkte den Kopf, falls Tony herübersah und sie bemerkte.
Mit langen, selbstsicheren Schritten bog er in die 6th Street. Barbara folgte ihm in einigem Abstand und hielt am Straßenrand, als er kurz stehen blieb, um sich einen offenen Schuh zuzubinden. Er trug natürlich keine Stiefel, dachte Barbara verächtlich. Dafür war er ein zu verdammter Macho.
Wo wollte er hin? Und wie lange wollte sie ihm folgen?
An der Race Street bog Tony links ab. Sie waren nun mitten im Hoteldistrikt, das Cincinnatian, das Clarion und das Terrace Hilton lagen gleich in der Nähe. War es denkbar, dass er in einem dieser Hotels wohnte? Ich sollte wahrscheinlich besser aussteigen und ihn zu Fuß weiterverfolgen, dachte Barbara, entschied jedoch, dass das eine dumme Idee war. Sie würde nie mit ihm Schritt halten, schon gar nicht auf diesen hohen Absätzen, und was wollte sie machen, wenn er plötzlich in seinen Wagen stieg und wegfuhr?
Barbara erkannte, dass sie wieder vor Saks gelandet waren. Warum? Wohin wollte er? Spazierte er im Kreis? Hatte er bemerkt, dass sie ihm folgte? Barbara duckte sich und trat auf die Bremse. Der Mann in dem Wagen hinter ihr tat sein Missfallen durch lautes Hupen kund. Barbara atmete gepresst aus, ihre Brust schmerzte. Sie hatte Angst, sich aufzurichten und den Blick zu heben. Was, wenn Tony neben dem Wagen stand? Was, wenn er in diesem Moment dort stand und mit diesem schrecklichen selbstzufriedenen Grinsen auf sie herabblickte?
Hinter ihr hupten weitere ungeduldige Fahrer. Wie eine Schildkröte, die unter ihrem Panzer hervorlugt, hob Barbara langsam den Kopf. Tony war weg. »Scheiße«, rief sie, schlug mit der Hand auf das Lenkrad und lauschte entsetzt dem eigenen lauten Hupen, das die Luft zerriss.
Und dann war er wieder da, fädelte sich in einem alten blauen Nissan in den Verkehr ein und bog rechts in die Elm Street ab. Barbara schnitt einen schwarzen VW, dessen Fahrer ihr wütend den Stinkefinger zeigte, und überholte einen weiteren Wagen auf der rechten Spur. An der 6th Street bog Tony erneut rechts ab, wie auch an der Central Avenue und der 7th Street. Ehe Barbara sich versah, hatten sie den Fountain Square-District verlassen und waren auf der Gilbert Avenue. Sie fuhren an dem Greyhound-Bus-Terminal vorbei, ließen Mount Adams links liegen und hielten direkt auf das 75 Hektar große, malerische, historische Viertel von Eden Park zu.
Was machte Tony hier draußen?, fragte Barbara sich, als sie den Wasserspeicher umrundeten und den Murray-Seasongood-Pavillon passierten, der 1959 zu Ehren eines ehemaligen Bürgermeisters errichtet worden war. Weiter ging die Fahrt vorbei am Cincinnati Art Museum, dem Wasserturm in Eden Park, einer Sehenswürdigkeit des Ohio Valley, die seit 1908 nicht mehr in Betrieb war, dem Konservatorium und den steinernen Adlern, die die alte Arch Bridge zierten, bis sie schließlich den Eingang des Eden Park unweit von Twin Lakes erreichten. Twin Lakes war früher ein Steinbruch gewesen, und diverse Klippen boten eine phantastische Aussicht auf den Ohio River, vor allem im Frühling und Sommer. Doch um diese Jahreszeit waren die Bäume kahl und die Bürgersteige dreckig. Keine Kinder spielten am Ufer, und nur hin wieder kam ein Jogger vorbei. Was wollte Tony hier?
Sie fuhren
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