Nur zu deinem Schutz (German Edition)
Wachen zu überwältigen. Insgesamt entkamen achtzehn Männer. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Lager. Natürlich war ich überglücklich, als ich davon erfuhr, fühlte mich aber zugleich einsamer und verlorener denn je. Ich hatte entsetzliche Angst und weinte die ganze Nacht, obwohl ich geglaubt hatte, keine Tränen mehr zu haben. Ja, ich schämte mich sogar dafür. Und plötzlich kniete mein Vater vor mir und flüsterte: ›Ich würde doch niemals ohne dich fortgehen, mein Täubchen.‹«
Die Hexe lächelte, als sie daran dachte.
»Wir flohen gemeinsam, mein Vater und ich, und stießen zu den anderen Männern, die sich in den Wäldern versteckt hielten. Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich gefühlt habe, Mickey. Wie es sich anfühlte, frei zu sein. Als wäre man sehr lange unter Wasser gedrückt worden und würde endlich durch die Oberfläche stoßen und den ersten Atemzug tun. Gott, es war so schön, wieder mit meinem Vater zusammen zu sein, alles schien möglich, wir wollten uns dem Widerstand anschließen, aber dann …«
Ihr Lächeln erlosch wie eine von einem plötzlichen Windstoß ausgehauchte Kerze. Es wurde kalt im Zimmer. Ich wartete, wollte, dass sie weitersprach, und hatte gleichzeitig Angst davor.
»Dann fand er uns.«
Sie wandte mir den Kopf zu und sah mich an.
»Wer?«, fragte ich.
»Der Schlächter von Lodz«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Ein Oberst der Waffen-SS.«
Ich hielt den Atem an.
»Er stöberte uns mit seinen Leuten in den Wäldern auf. Kreiste uns ein. Zwang uns, eine Grube auszuheben und sie mit Kalk zu füllen. Anschließend befahl er uns, uns davor aufzureihen. Wir standen mit dem Rücken zu seinen Männern, er selbst hatte sich auf der anderen Seite der Grube aufgebaut und musterte uns. Sein Blick blieb an meinem Vater und mir hängen. Er lächelte. Mein Vater flehte ihn an, mein Leben zu verschonen, worauf der Schlächter mich sehr lange musterte. Ich werde nie den Ausdruck auf seinem Gesicht vergessen. Schließlich schüttelte er den Kopf und stellte sich wieder zu seinen Männern. Ich weiß noch, wie mein Vater meine Hand ganz fest in seine nahm und mir zuflüsterte: ›Hab keine Angst, mein Täubchen.‹ Dann gab der Schlächter den Befehl, uns zu erschießen. Sie feuerten entlang der Reihe, die wir gebildet hatten. In letzter Sekunde stieß mein Vater mich in die Grube und rückte einen winzigen Schritt nach rechts, um mich vor dem Kugelhagel zu schützen. Sein toter Körper landete auf mir. Ich blieb die ganze Nacht unter ihm liegen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Es wurde Tag und irgendwann kroch ich aus der Grube und floh in den Wald.«
Sie verstummte.
Ich wartete, spürte, wie ich am ganzen Körper zitterte. Als sie nicht wieder zu sprechen anfing, sagte ich: »Sie konnten also entkommen und begannen dann, anderen Kindern zur Flucht zu verhelfen.«
Plötzlich sah sie erschöpft aus. »Eines Tages werde ich dir mehr erzählen.«
Stille.
»Ich verstehe es immer noch nicht«, sagte ich.
Sie schaute mich an.
»Sie haben gesagt, die Geschichte würde mir verstehen helfen, was mit meinem Vater passiert ist. Aber ich sehe den Zusammenhang nicht.«
»Ich versuche, dir etwas begreiflich zu machen.«
»Was begreiflich zu machen?«
»Mein Vater hatte sich entschieden. Sein Leben für meines. Das musste ich irgendwie wiedergutmachen. Ich musste dafür sorgen, dass seine Entscheidung richtig war.«
Sie senkte den Blick, und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, durch all die Jahre hindurch wieder das kleine Mädchen zu sehen. »Als der Krieg zu Ende war – als die Welt glaubte, ich sei tot –, machte ich mich auf die Suche nach dem Schlächter von Lodz. Ich wollte ihn für das, was er getan hat, seiner gerechten Strafe zuführen. Ich nahm Kontakt zu Organisationen auf, die nach Ex-Nazis suchen.«
Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten. »Haben Sie ihn gefunden?«
Sie wandte erneut den Blick ab, ohne meine Frage zu beantworten. »Weißt du, ich sehe manchmal immer noch sein Gesicht vor mir. Ich sehe ihn auf der Straße oder wenn ich aus dem Fenster schaue. Er verfolgt mich in meinen Träumen, selbst heute noch, nach all den Jahren. Ich sehe sein amüsiertes Lächeln, bevor er meinen Vater tötete. Aber vor allem …« Sie verstummte.
»Vor allem?«, sagte ich.
Sie schaute mich an. »Vor allem erinnere ich mich daran, wie er mich ansah, als mein Vater ihn anflehte, mich zu verschonen. Als hätte er es
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