Nuramon
Laufen die Hand und gedachte der Zauber, die er unter Cerens Lehren verfeinert hatte. Er stieß die freie Hand vor, und ein Blitz zuckte voran und spaltete sich wie das Geäst eines Baumes. Er traf nur sieben Krieger und warf sie zuckend zu Boden, doch es reichte aus, um Hunderte davonzujagen.
Nuramon blieb stehen und wandte sich zu Goswyrn um. Der Schwertfürst schien an der Schulter verletzt zu sein, doch seine Männer zerstießen gerade die Basis des ersten Belagerungsturmes mit dem Rammbock. Das schwere Holzgebäude geriet ins Wanken. Die ersten Varmulier sprangen bereits aus dem Turm in die Tiefe, andere klammerten sich fest, als böte das fallende Gebilde ihnen noch irgendeinen Schutz. Unter Getöse brach der Belagerungsturm zusammen, und zurück blieb nur Holzschutt, zwischen dem die Glieder der Toten hervorragten und aus dem sich die Verletzten zu befreien suchten.
Nuramon wandte den Blick ab und ließ ihn über das Schlachtfeld schweifen. Die Feinde wichen auf ganzer Breite von Urijas zurück. Niemand formierte sich mehr gegen sie. Die Varmulier, die er überhaupt noch erblickte, liefen vor den Seekriegern davon. Viele von ihnen trugen Verletzte oder sogar Tote auf dem Rücken.
Als auch der zweite Belagerungsturm gefallen war und sich die Varmulier am Nordosttor ungeordnet zum Lager zurückzogen, setzte Nuramon ein weiteres Mal zum Kriegsschrei der Seekrieger an und reckte zugleich sein Schwert in die Höhe. Seine Gefährten taten es ihm gleich, und die Krieger auf den Mauern von Urijas stimmten erneut ein.
»Nuramon!«, rief jemand von den Zinnen herab. Er schaute hinauf und erspähte Jasgur. Der Wyrenar strahlte vor Glück und brüllte Dankesworte zu ihm herab.
»Es ist noch nicht vorbei«, rief Nuramon zu ihm hinauf und deutete auf das Heerlager. »Erst wenn wir sie vertrieben haben, gehören die Vorräte euch.«
Jasgur grinste, dann verschwand er. Kurz darauf öffnete sich das Stadttor, und die Reiterei machte einen Ausfall.
Am Abend leistete Daoramu mit Nylma ihrer Mutter in deren Gemächern Gesellschaft. Sie saßen beisammen und lauschten dem Regen, der gegen die Läden pochte. In Gedanken aber war Daoramu bei Nuramon.
»Oh, wie gerne ich jetzt in Urijas wäre, um mit eigenem Schwert in die Schlacht zu ziehen!«, sagte Nylma und schaute zu der Wiege, die nahe dem Feuer und unter den Augen Cerens stand.
»Hast du denn keine Angst, dass dein Kind mutterlos sein könnte?«, fragte Daoramu. »Ich habe es schon bei Vater nie verstanden. Was reizt dich am Kämpfen?«
Nylma zwinkerte ihr zu. »Wenn es darum ginge, den Varmuliern ein Stück ihres Landes fortzunehmen, wäre ich deutlich zurückhaltender. Aber für eine gute Sache zu streiten, das rührt etwas in mir.«
»Das ist der Unterschied zwischen dir und Borugar«, sagte Jaswyra. »Er fühlt sich erst lebendig, wenn er dem Feind Aug in Aug gegenübersteht.«
»Das Gefühl kenne ich aber auch«, entgegnete Nylma. »Ich will nicht behaupten, dass ich stolz darauf bin. Inmitten all des Leides wird dir schlagartig klar, dass es ein großes Glück ist, noch am Leben zu sein. Dieses Gefühl der Lebendigkeit ist kaum zu überbieten, und es gibt nur wenig, das sich damit messen kann.«
»Und das wäre?«, fragte Daoramu in der Hoffnung auf etwas anderes zu sprechen zu kommen.
»Es steht auch dir bevor.« Nylma lächelte und blickte zu ihrem Sohn hinüber. »Jeder kann ein Leben nehmen, aber nur wir Frauen können es gebären.«
Jaswyra schmunzelte. »Aber die Männer können es mit uns zeugen.«
»Und das ist das andere, das weit über das Gefühl auf dem Schlachtfeld hinausgeht«, sagte Nylma grinsend.
Nun war auch Daoramu wieder nach Lachen zumute.
»Herrin! Herrin!«, rief ein Mann auf dem Flur, und ehe er das Zimmer betrat, schien Ceren sich in Luft aufzulösen. Nichts erinnerte mehr an ihre Gegenwart.
Daoramu kannte den Mann. Sein Name war Syargar, und er war mit seinen siebzehn Jahren der jüngste Krieger in Nylmas Palastwache. Er mäßigte seine Schritte, als er das in der Wiege schlafende Kind sah. »Ein Brief aus Byrnjas«, flüsterte er, als er sie erreicht hatte. »Vom Fürsten.«
»Ist er wirklich für mich?«, fragte Daoramu.
»Ja«, antwortete der Krieger und machte ein verwundertes Gesicht.
»Gib ihn meiner Mutter«, sagte Daoramu, setzte sich auf und hielt sich mit der linken Hand den Bauch.
Syargar verbeugte sich zunächst vor ihr und dann vor Jaswyra. Er reichte der Fürstin das Schreiben. Diese nickte dankend, brach das
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