Nuramon
Königsstraße.
Goswyrn trat zu ihnen. »Ein varmulischer Bote hat darum gebeten, die Leichen holen zu dürfen«, sagte er. »Es ist an dir, es zu erlauben.«
»Ich hörte, das sei üblich«, entgegnete Nuramon.
Goswyrn nickte ebenso wie Jasgur. »Ich werde ihnen also mitteilen, dass sie sie im Morgengrauen holen dürfen«, sagte der Schwertfürst der Seekrieger. »Und was die verletzten Feinde angeht: Du sagtest, wir sollten sie verschonen. Also haben wir sie in ihre Zelte gelegt und bewachen sie. Willst du irgendetwas Bestimmtes von ihnen?«
»Ich komme später zu ihnen«, sagte Nuramon.
Goswyrn verbeugte sich, und kaum war er die Treppe hinabgestiegen, fragte Jasgur: »Was soll das mit den Verletzten?«
»Ich überlege, als Zeichen des guten Willens, einige Feinde zu heilen.«
»Bist du wahnsinnig?«, rief Jasgur.
»Fragst du dich nie, ob jene, die du niederstreckst, eine Familie haben, zu der sie zurückkehren möchten?«
»Dann heile unsere Leute.«
»Das werde ich. Aber ich möchte auch einige der Varmulier heilen.«
»Glaubst du, sie werden stolz herausrufen, dass der Feind sie gerettet hat?«
Nuramon schüttelte den Kopf. »Nein. Aber der Gedanke, dass diese Männer zu ihren Frauen heimkehren und ihnen nachts zuflüstern, dass einer unter den Feinden ihnen das Leben rettete, dieser Gedanke beschäftigt mich.«
»Aber könntest du nach Jasbor zurückkehren und den Witwen der Seekrieger in die Augen schauen und ihnen erklären, dass du ihre Gatten nicht retten konntest, aber jene, die für den Tod ihrer Männer verantwortlich sind, geheilt und zu ihren Familien nach Hause geschickt hast?«
»Damit hast du natürlich nicht unrecht«, sagte Nuramon. »Und dennoch.«
Jasgur sah ihn eindringlich an. »Nuramon. Wenn du nun keinen Unsinn machst, kannst du zum größten Krieger aller Zeiten aufsteigen. Aber wenn du anfängst, Feind und Freund gleich zu behandeln, wirst du alles verspielen. Niemand wird es dir übelnehmen, wenn du die Gefangenen, die am Morgen noch leben, den Varmuliern übergibst.«
»Dann will ich deinem Rat folgen«, sagte Nuramon. »Aber es scheint, ich bin für die Unerbittlichkeit eurer Kriegsführung nicht geschaffen.«
»Es gibt jene, die den Kampf führen, und jene, die sich um das Schlachtfeld kümmern, wenn der Kampf entschieden ist. Beim nächs ten Mal solltest du Goswyrn oder einem anderen, dem du vertraust, freie Hand lassen.«
Dass er Goswyrn noch nicht gut genug kannte, um ihm zu vertrauen, verschwieg Nuramon. »Vielleicht sollte ich das nächste Mal eine kleinere Rolle spielen«, sagte er.
»Dann wirst du unsterblich«, erwiderte Jasgur grinsend.
Daoramu war froh, als ihr Vater am Morgen des 36. Byrrun, dem letzten Tag dieses ereignisreichen Monats, breit grinsend heimkehrte. Verwundert schaute Borugar auf die rege Betriebsamkeit, die an seinem Hof herrschte. »Habe ich etwas verpasst?«, fragte er.
»Du warst so beschäftigt, dass du die meisten, die ich an den Hof holen wollte, einfach abgenickt hast«, erklärte sie. »Wo sind Nuramon und Jasgur?«, fragte sie ohne Furcht. Denn die Freude ihres Vater bewies, dass sein Plan aufgegangen war.
Er erzählte ihr, dass er seine beiden Wyrenar zuletzt in Byrnjas gesehen hatte, wo sie über die Albenpfade gekommen waren, um sich mit ihm zu beraten. »Nuramon hat Jasgur nach Urijas zurückgebracht und dann weitere Krieger über die Albenpfade geführt. Er wollte noch heute heimkommen«, sagte Borugar. Dann begleitete er Daoramu in den Thronsaal und erzählte dort von dem Sieg in Urijas in derart schillernden Farben, dass es nahezu wie eine Sage klang. »Die Varmulier sind über den Ruljas geflohen, und Jasgur ist fest entschlossen, gegen Doaro vorzugehen. Er will die Aufstände in Gaelbyrn nutzen und unseren abtrünnigen Herzog in die Knie zwingen. Ich bin mir sicher, dass Jasgur sich in Urijas behaupten kann. Ich habe ihn zum Kriegsherrn gemacht, bis wir einen Herzog haben, dem wir vertrauen.«
»Wie wäre es mit Golro?«, fragte Daoramu. Der alte Fürst hatte Borugars ehemaligen Nachbarn, dem Grafen von Wuromer, stets wenig Beachtung geschenkt. »Ihr habt euch immer gut verstanden, und er hat Talent. Das hast du selbst gesagt.«
Borugar nickte. »Ich werde auch mit meinen anderen alten Grafenfreunden sprechen. Später.« Er nahm Jaswyra in den Arm. »Nach den Feierlichkeiten.« Dann verließ er an der Seite ihrer Mutter den Thronsaal, und sie blieb allein zurück. Nur noch ein wenig, und Nuramon würde kommen.
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