Nuramon
Nordwesten her ausgespäht hatte, waren die Mauern voller Bogenschützen gewesen, die den Varmuliern zugesetzt hatten. Nun aber hatten die Bogensehnen unter dem Regen gelitten, und das Einzige, was an diesem Morgen von der Mauer herabging, waren Steine. So hatten die Varmulier trotz des aufgeweichten Bodens den Vorteil auf ihrer Seite. Sie bemühten sich, über Leitern und zwei Belagerungstürme die Mauern zu stürmen. Im Südosten des Lagers baute ein Heer aus Arbeitern an drei weiteren Türmen und an einem Katapult. Indes führten die Kriegsscharen Rammböcke gegen das Osttor und das Nordosttor, und Nuramon vermutete, dass es an den anderen Stadtpforten nicht anders aussah. Urijas würde diesen Ansturm nicht ewig aushalten.
Und doch es gab Hoffnung. Die Feinde hatten ihre Hauptmacht nach Westen verschoben. Hornsignal nach Hornsignal drang aus der Ferne heran. Dort irgendwo musste Marugir, der Graf von Byrnjas, mit seiner Streitmacht die Königsstraße herabgekommen sein, während die Nordgrafen unter der Führung von Graf Golro von Wuromer, dem ehemaligen Nachbarn Borugars, auf der Kranzstraße vorgestoßen waren. Nuramon hatte sie alle gestern über die Albenpfade an ihre Bestimmungsorte gebracht, und von dort aus waren sie in den Kampf gezogen. Er selbst hatte die Jasborer Seekrieger durch einen Albenstern in den Schlangenforst nördlich von Urijas geführt, und nun war das Lager der Varmulier nur noch etwa zweihundert Schritte von ihnen entfernt. Sie mussten lediglich aus dem Wald treten, den Hügel hinablaufen, und schon würde der Kampf beginnen.
Nuramon sah dort unten zwischen den Zelten zwar etliche Krieger, doch die Reiterei war fast völlig verschwunden, und die verbliebenen Pferde, die neben dem Lager grasten, wirkten auf ihren von weiten Zäunen umfangenen Weiden beinahe verloren.
Wie Yargir es vorausgesagt hatte, hatten die Seekrieger sich mit dem Reisen über die Albenpfade schwergetan. Doch letztlich hatten sie das Vertrauen bestätigt, das Borugar in sie setzte. Die Krieger, allen voran ihr Schwertfürst Goswyrn, waren längst wieder die Alten – unerschrockene Männer mit bunten Gesichtsbemalungen, welche Auskunft über ihren Rang im Gefüge gaben.
Goswyrn hatte darauf bestanden, dass Nuramon die Bemalung eines Schwertfürsten mit ihm teilte: rote Linien, die auf Goswyrns Gesicht wie Schnittwunden wirkten. Eine meergrüne Rüstung, wie sie dem Schwertfürsten der Seekrieger gebührte, hatte Nuramon aber abgelehnt. Er trug seine dunkelgraue Lederrüstung aus Teredyr und fiel damit gewiss zwischen den vielen für Jasbor ungewöhnlich bunten Farben auf. Von den gekrümmten Wurfdolchen, welche die Seekrieger führten, hatte er einen angenommen und sich in den Gürtel gesteckt.
»Du hattest recht, Wyrenar«, sagte Goswyrn. »Diese Seite ist tatsächlich fast ungeschützt. Aber es sind immer noch verdammt viele.« Er rieb sich über seinen kahlen Schädel, auf dem sich die rote Bemalung zu einer Fläche fügte. »Vielleicht fünf zu eins«, sagte er.
Immer mehr Blicke richteten sich auf Nuramon, als wollten ihn die Krieger fragen, ob er ernsthaft beabsichtigte, Seekrieger in eine Landschlacht zu führen.
Nuramon wandte sich zu den Männern um und lächelte. »Ihr fragt euch, warum wir ausgerechnet euch für diesen Angriff ausgewählt haben«, sagte er. »Borugar sagte mir, es habe Zeiten gegeben, da bereits ein Kriegsschrei aus euren Kehlen ausreichte, um feindliche Schiffe in die Flucht zu treiben.« Er wies über das Lager hinweg zu den Mauern der belagerten Stadt. »Eure Vorgänger haben Ruhm auf dem Meer, an den Stränden und Häfen errungen. Ihr seid die Ersten, die die Macht des Meeres weit ins Land hinaustragen. Zeigen wir den Varmuliern, was sie erwartet, wenn sie bis nach Jasbor vorstoßen! Zeigen wir ihnen, was ihnen am Ende ihres Weges blüht!«
Die Entschlossenheit in den Mienen der Seekrieger reichte Nuramon als Bestätigung aus. Er zog sein Schwert, wandte sich um und führte die Kriegsschar den Hügel hinab. Noch schwiegen sie, noch bewegten sie sich leise vorwärts. Als aber am Fuße des Hügels Alarmschreie aus dem varmulischen Lager drangen, stürmten Nuramon und sein Gefolge unerbittlich zwischen die Zelte. Jeder, der sich ihnen in den Weg stellte, wurde von der Wucht ihres Angriffes hinfortgespült.
Nuramon traf auf den ersten Gegner, einem Mann mit einer Schnittnarbe am Kiefer, und trieb ihm die Klinge in den Leib. Er sah in die erschrockenen Augen des Kriegers, der von
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