Nuramon
durchschneiden einen Schleier nach dem anderen. Wenn die Sinne nicht abstumpfen, geht die Sinnesreise immer weiter. Jedes Erleben stärkt mein Empfinden. Je öfter ich Glück empfinde, umso tiefer rührt es mich, je öfter ich staune, umso größer meine Verwunderung. Und je öfter ich die Liebe spüre, umso mehr wühlt sie mich auf. In jedem meiner Leben liebte ich ein wenig anders. Und nun, da ich mich an die früheren Leben erinnere und beinahe alles geordnet habe, merke ich es deutlicher denn je. Es ist, als hätte die Erinnerung diese Empfindungen in mir geweckt und zusammengeführt. Nur ein Teil von mir liebte Noroelle und nur jeweils ein Teil des Ganzen liebte all die anderen. Und bei den meisten wurde meine Liebe nicht erwidert oder starb einen zu frühen Tod. Und jetzt ist alles wieder erwacht, und all diese Gefühle, die sich an andere banden, nie aber an eine, empfinde ich nun für dich allein.«
Sie schaute ihn mit glänzenden Augen an, schluckte und lächelte verlegen, ehe sie sprach: »Eine Frage habe ich noch an dich. Eine letzte Frage der Umworbenen. Wirst du mich noch lieben, wenn ich alt werde?«
»Du fürchtest, dass du alterst und ich nicht; dass du der Jugend nachtrauerst wie so viele Menschen, während ich sie anscheinend genieße. Aber ich fühle mich weder jung noch alt. Ich erinnere mich an meine alten Körper.« Er blickte an sich hinab. »Und dieser ist nur einer davon. Die Erinnerung lässt mich noch Wunden fühlen, die längst vergangen sind.« Er hob die rechte Hand. »In einem Leben verlor ich die Fingerkuppen, und ab und zu jucken sie wie eine alte Wunde. Und nachts träume ich manchmal, dass die Fingerkuppen aus Wachs sind und in der Sonne schmelzen. Aber ganz gleich, wie ich mich in meiner Haut fühle: Jugend und Alter verspüre ich nicht. Ich bin weder alt noch jung. Nur wenige von uns altern körperlich. Manchmal kann ein magisches Ereignis dazu führen.« Er rieb seine weiße Haarsträhne zwischen den Fingern. »Das geschah bei dem magischen Gewaltakt, der mir die Erinnerung brachte.«
»Ich fürchte mich, Nuramon«, sagte Daoramu. »Vor mir selbst, meine ich. Du magst dich nicht alt fühlen. Aber ich werde es irgendwann verspüren, und dann werde ich mich nicht nur körperlich verändern, auch mein Wesen wird sich wandeln. Andere werden dir schöne Augen machen, und ich werde mich vielleicht schämen, als alte Frau neben so einem vortrefflichen Mann zu stehen, den spöttischen Blicken anderer ausgesetzt.«
»Selbst wenn es so wäre, bleiben uns Jahre – wundervolle Jahre. Wir hätten heute Nacht sterben können, Daoramu. Jeden Augenblick kann das Leben zu Ende sein. Und du fürchtest, dass in – was? – zwanzig oder dreißig Jahren irgendwer irgendetwas sagen könnte? In dieser Zeit können wir, wenn das Schicksal es will, glücklicher werden als irgendein Mensch in einem ganzen, langen Leben. Glücklicher, als es ein Elf in Jahrtausenden wurde.«
Daoramu lächelte. »Es gibt für dich also kein Zurück mehr.«
»Es ist deine Entscheidung, Daoramu. Denn ich habe mich entschieden. Solltest du Zeit brauchen, dann nimm sie dir, denn ich bin geduldig.«
»Warum warten, wenn auch ich mich entschieden habe?«, sagte sie und trat an ihn heran.
Er fasste ihre Hände; sie waren immer noch warm.
Sie löste ihre rechte Hand, strich ihm über die Wange und schaute an seinem Gesicht hinab und herauf, als sähe sie es zum ersten Mal. Sie fuhr an seinem Ohr entlang und lächelte, als sie die Spitze sanft zwischen ihren Fingern streichelte und ihm einen Schauer über den Rücken sandte.
Er fuhr mit der Hand durch ihr feuchtes Haar, dann hinab über den Nacken zu ihrer Schulter. Als er ihr das Schlüsselbein entlangstrich, schloss sie die Augen und zitterte.
Mit dem Öffnen ihrer Augen öffnete sie auch die Fibel an seinem Mantel. Schon fiel dieser zu Boden, und Daoramus Hände waren an seinem Wams. Sie löste die Knöpfe aus den Schlaufen und vergewisserte sich immer wieder mit einem Blick, dass er nichts dagegen hatte. Und was immer in seinem Gesicht geschrieben stand, es ließ sie weitermachen. Als sie ihn von dem Wams befreit hatte, hielt sie inne und staunte über das elfische Leinenhemd mit seinen flachen Knöpfen, die links über die Schulter an der Seite hinabliefen. Solche Hemden trug man in seiner Sippe seit Jahrhunderten. Vielleicht wunderten sie die Knöpfe. Sie waren hier zwar bekannt und verbreitet, doch Knopflöcher hatte er hier noch nie gesehen, nur Schlaufen,
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