Nuramon
aber sie will nicht, dass ich ihn Dir zum Abschied überreiche. Vielleicht hät test Du mein Geschenk zurückgewiesen, und auch das hätte Dein Schicksal verändert. Aber dieses Kleinod gehört zu Dir, obwohl Du nicht einmal ahnst, was es ist, weil Du es längst aufgegeben hast.
Jetzt, da Du diesen Brief in Händen hältst, erinnerst Du Dich an Deine früheren Leben. Die Welten sind getrennt, die Königin lebt, Farodin und Noroelle sind im Mondlicht. Obilee hat Dich gehen lassen, und auch wenn sie es damals nicht ahnte, wird sie heute bereits ihre Liebe gefunden haben. Du aber bist das letzte Albenkind in der Welt der Menschen – abgeschnitten von uns allen, aber nicht von deinem Erbe.
Nuramon hielt inne. Von welchem Erbe sprach sie? Niemand war ihm etwas schuldig geblieben, weder seine Sippe noch die beseelte Eiche Alaen Aikhwitan. Was ihm geblieben war, hatte er anderen anvertraut. Yulivee war seine Erbin, und seinen alten Zauberbogen hatte er an seine Kampfgefährtin Nomja gegeben. Da er nicht wusste, was Yulivee meinte, las er hastig weiter:
Ich prüfte das Kleinod, das durch die Macht des Alaen Aikhwitan bewahrt, durch die Magie der Dschinne gelöst, durch mich in diesen weißen Stein gebannt und durch Emerelles magische Quellen gestärkt wurde. Und dann legte ich es mit dem Brief in die Truhe und überreichte diese Emerelle. Sie wird diesen Schatz dort hinterlassen, wo Du ihn finden wirst.
Vielleicht wirst Du es mir im ersten Augenblick übelnehmen und bedauern, dass ich so schicksalsergeben wie Emerelle geworden bin. Aber vertrau mir. Es ist so wichtig, dass ich – Deine Schwester – Dich hintergehe; so wichtig, dass Obilee, die Dich liebt, es Dir verheimlichen und Emerelle, die Dich so viele Leben hindurch auf Deinem Pfad gehalten hat, es Dir verschweigen wird. Vertraue uns! Vertraue der Königin, der Kriegerin und dem Kinde! Vertraue uns Narren des Schicksals!
Ich vermisse Dich und werde Dich immer vermissen. Was ich Dir hinterlasse und auf diese Weise hinterlassen muss, damit Du den großen gebratenen Gelgerok nicht riechst, ist etwas, das seit Jahrtausenden darauf wartet, wieder zu erblühen. Leg einfach den Stein ins Feuer, und vergiss nie, wer Dir den Weg nach Alvarudor wies.
Deine Schwester
Yulivee
Nuramon weinte. Der Brief riss verheilt geglaubte Wunden auf. Er vermisste Yulivee und wusste zugleich, dass er die Sehnsucht, die er empfand, nie würde stillen können.
Er schaute zur Tür und sah, wie Nylma und Yargir sich zurückzogen. Daoramu aber blieb und blickte ihn voller Mitleid an. Sie war es, die ihm den Weg nach Alvarudor gewiesen hatte, und so offenbarte Emerelle sich ein weiteres Mal als die Meisterin des Schicksals. Die Elfenkönigin hatte einen hauchdünnen Schicksalspfad gesehen und es tatsächlich geschafft, auf ihm zu wandeln. Und sie hatte Yulivee und Obilee daran teilhaben lassen. Es berührte ihn, dass jene, die ihn schätzten und liebten, ihn in diese Welt entlassen hatten. Und die Angst vor der Zukunft, die er nicht kannte und die Yulivee und die anderen nur als mögliche Zukunft gewahrt hatten, wühlte ihn auf.
Er nahm das Kleinod in die Hand und spürte dessen Magie, die wie aufgeschreckte Spinnen seine Finger und seine Arme entlanglief. Was immer Yulivee und die anderen in diesen Stein gelegt hatten, es war ein mächtiges Geschenk. Am liebsten hätte er sofort ein Feuer entfacht. Aber dann beschloss er, es in Ruhe zu tun, nicht unvorbereitet und voller Sehnsucht nach Yulivee. Er hatte Angst, dass seine Gefühle ihn sonst überwältigen könnten.
Daoramu trat näher und schloss ihn in die Arme. »Ein Brief aus Albenmark?«, hauchte sie ihm ins Ohr.
»Ja«, sagte er.
Sie küsste ihm die Tränen fort. »Möchtest du mir sagen, was darin steht? Du musst es nicht.«
Er zögerte nicht und übersetze ihr das Schreiben Satz für Satz ins Arlamyrische. Daoramu blickte ihn dabei mal erstaunt, mal gerührt an. Als er ans Ende kam und die Worte »Vergiss nie, wer Dir den Weg nach Alvarudor wies« ausgesprochen hatte, kamen auch ihr die Tränen.
Yulivees Vermächtnis
Daoramu wusste nicht, woher Nuramon die Geduld nahm, den Stein zurück in die Truhe zu legen, sie nach unten zu begleiten und erneut zu den Menschen von Alvarudor zu sprechen. Er sagte ihnen, was sie soeben beschlossen hatten: dass sie den Rest des Winters in der Stadt verbringen würden. Was danach kam, würde sich zeigen.
Während die Hüter des Hauses Vorräte brachten, saß Nuramon auf dem kleinen Balkon
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