Nuramon
dass die Wahrheit sein Verderben wäre.«
»Das ist Emerelles Spiel«, sagte Nuramon mit müder Stimme. »Ich wünschte, es gäbe ihren magischen Silberspiegel nicht, den Blick der Weisen und der Orakel in die Zukunft, sondern einfach nur das eigene Handeln.«
»Wenn du mich vor dem Verderben retten könntest, indem du mir die Wahrheit vorenthältst, würdest du es doch tun, oder etwa nicht?«
»Ich würde mich dafür hassen.«
»Und ich wäre lieber eine Lügnerin als schuldig an deinem Verderben.«
»Hast du mich denn je belügen müssen?«, fragte er mit einem halben Lächeln auf den Lippen.
Sie schüttelte den Kopf und schmunzelte. »Ich verfüge auch nicht über einen Spiegel, der mir die Zukunft zeigt. Trotzdem bin ich mir sicher, dass Ceren zu dir gehört.« Sie berichtete ihm, was sie mit dem Geist gesprochen hatte und schob ihre Hand auf seine Schulter. »Der Verlust von damals brennt noch durch all die Jahrhunderte hindurch. Aber du bist seit damals gewachsen. Die erhabene Ceren ist verloren, aber vielleicht kannst du dem Hauch dieses Wesens ein Mentor sein. Betrachte sie als Wiedergeborene, die sich an einiges, aber nicht an alles erinnert. Weise sie nicht zurück, wie deine Sippe es immer wieder mit dir getan hat.«
Nuramon erstarrte und blickte ins Leere. Erst nach einer ganzen Weile blinzelte er und lächelte sie liebevoll an. Er strich ihr durchs Haar und nickte langsam.
Daoramu küsste ihn, und gemeinsam schauten sie in die Flammen. »Ceren«, flüsterte sie schließlich.
Die Geistergestalt erschien, und ein schmales Lächeln entfaltete sich auf ihrem Gesicht.
»Du bist es also«, sagte Nuramon. »Wiedergeboren, um bei mir zu sein. Ist dir denn der Gedanke, hier zu sein, nicht unerträglich?«
»Wenn man alles verloren hatte und auch nur den Hauch des alten Lebens zurückerhält, so ist das ein Geschenk. Ich möchte euch Schützling und Mentorin zugleich sein. Ich habe nicht alles vergessen, Nuramon. Ich spüre die Macht Alaen Aikhwitans in dir und auch den Hauch meiner selbst. Und dann ist da etwas Fremdes. Du warst lange beim Steinvolk, bei den Kindern der Dunkelalben.«
Daoramu wusste, dass Ceren die Zwerge meinte. Die Kinder der Dunkelalben. Nuramon hatte sie Dutzende Mal korrigiert, als sie statt Kinder der Dunkelalben lediglich Dunkelalben gesagt hatte. Das brachte sie selbst nun zum Schmunzeln.
»Ich lernte viel bei ihnen«, erklärte Nuramon. »Vielleicht fand ich deswegen den Pfad zurück zu den Erinnerungen an meine früheren Leben.«
»Dass du diese beiden völlig verschiedenen Wege der Magie beschreiten kannst, spricht für dich. Auch ich selbst habe in meiner jetzigen Gestalt viele Dinge anders zu betrachten gelernt. Früher hätte ich alles Unbelebte verachtet. Nun aber, da ich selbst mit einem Stein verbunden bin, merke ich, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen dem Belebten und dem Unbelebten gibt.«
»Dann sei willkommen in unserer Mitte, Ceren«, sagte Nuramon lächelnd.
Der Geist nickte, und ihr weißes Haar wehte in einem Wind, der nur sie allein erfasste. »Ich habe lange davon geträumt, wieder Teil deiner Familie sein, Nuramon.«
Fasziniert sah Daoramu zu, wie Nuramon vortrat, um Ceren in die Arme zu schließen. Ihre Gestalt war nur ein Schein in der Luft, und doch wirkte es so, als spürten beide die Umarmung. Nuramon lächelte wie ein Kind, und als Ceren zu ihr kam und ihr über die Wange strich, begriff Daoramu, was ihn bewegte. Die Berührungen der bleichen Hände waren wie Sonnenstrahlen, die auf ihre Haut trafen.
»Wie lange wird der Zauber deines Steins währen?«, fragte Nuramon.
»Lange genug«, sagte sie. Dann trat sie rückwärts zum Kamin und verschwand.
Ceren
Am nächsten Morgen zögerte Nuramon, zu Ceren zu gehen. Er hatte mit Daoramu im zweiten Stock ein Gemach bezogen. Denn seine Liebste fühlte sich in Gegenwart des Steins beobachtet. So hatten sie Ceren das Zimmer der Abgesandten überlassen – ein Zimmer für sich allein, wie bei einem Wesen aus Fleisch und Blut. »Du solltest gleich zu ihr gehen«, sagte Daoramu beim Frühstück. »Ihr müsst euch gegenseitig entdecken – einen richtigen Anfang machen. Nimm dir Zeit für sie.« So schritt Nuramon kurz darauf die Treppe zu Cerens Zimmer hinauf.
Auf der kleinen Bank gegenüber des Kamins wirkte Ceren am Rande des Feuerscheins wahrlich geisterhaft, und es dauerte eine Weile, bis Nuramons Blick nicht immer wieder durch ihre Gestalt hindurchdrang, sondern an ihr haften
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