Nuramon
und blickte über die Nordstadt hinweg in das weite Tal hinaus. Er hatte geweint, das sah sie ihm an, als sie ihm Brot und Schinken brachte. Als der Abend kam und Nylma und Yargir mit zahlreichen Gästen unten im Saal feierten, kehrte Daoramu mit Nuramon in die Kammer der Gesandten zurück. Die Hüter hatten ein Wunder vollbracht. Der Staub, der Schmutz und die Spinnweben waren fort, alles Zerschundene war ersetzt, und das Zimmer wirkte nun ebenso gepflegt wie die anderen Gemächer. Endlich entfachte Nuramon mit seinem Zauber ein Feuer im Kamin. Er schaute Daoramu lange an. »Bist du bereit?«, fragte er schließlich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich bin neugierig.«
Nuramon schmunzelte, musterte den Stein noch einmal, ließ ihn dann ins Feuer gleiten und starrte wie gebannt in die Flammen. Die Wärme des Feuers drückte sich ihnen wie eine Wand entgegen, als hätten sich die Flammen aus dem Kamin gelöst, um näher zu schweben.
Daoramu wich zurück, und Nuramon kam langsam an ihre Seite.
Von einem Wimpernschlag zum anderen stand eine junge Frau vor ihnen, eine kalte Schönheit mit langem weißem Haar, schwarzen Augen und langen Armen und Beinen. Sie war in ein weißes Kleid gehüllt, das ihre Weiblichkeit kaum zu verhüllen suchte.
»Ceren!«, flüsterte Nuramon.
Daoramu staunte. Noch nie hatte sie etwas derart Schönes und Fremdartiges gesehen. Und sie erinnerte sich: Nuramon hatte ihr von Ceren erzählt, jenem Naturgeist, der sich mit einer riesenhaften Birke verbunden und mit seiner Magie Nuramons Sippe umsorgt hatte. Hier aber stand kein Baum, sondern eine barfüßige Frau, zeitlos wie eine Ahnenstatue, alt in einem jugendlichen Körper. Ihre Lippen waren so bleich wie ihre Haut, ihre Fingernägel so schwarz und glänzend wie ihre Augen.
Kurz ruhte ihr eindringlicher Blick auf Daoramu, um gleich darauf zu Nuramon zurückzukehren. »Du erinnerst dich nach all den Jahren an meine Erscheinung?«, sagte Ceren mit klarer Stimme. Dass sie Arlamyrisch sprach, entsetzte Daoramu. Das perfekt rollende r wies darauf hin, dass sie es vor langer Zeit gelernt hatte. Im Fürstentum Gaerulsar, südöstlich ihrer Heimat Yannadyr, sprachen die uralten Händler und Adligen noch auf ähnliche Weise.
»Du hast dich verändert, Nuramon«, sagte Ceren. »Aber deine Seele trägt noch immer dasselbe Antlitz.«
Nuramon wirkte irritiert, sah kurz zu Daoramu herüber, wandte sich dann erneut Ceren zu und antwortete ihr auf Arlamyrisch: »Aber du bist die Gleiche. Dies ist der Körper, in dem du uns unter deiner Birke beim Fest der Geister erschienen bist.«
Ein Lächeln glitt über Cerens bleiche Lippen. »Ich bin es, und ich bin es nicht.«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Nuramon.
»Ich bin nur ein Hauch dessen, was ich einst war. Meine Macht ist gebrochen. Dank Yulivee erwachte ich aus dem Schlaf, aus dem mich selbst Alaen Aikhwitan nicht erwecken konnte.«
»Was haben sie dir angetan? Was hat die Seele eines Baumes in einem Stein verloren?« Er schüttelte den Kopf.
»Wenn man sich nach dem Leben sehnt, ist einem auch ein Körper recht, der nicht dem eigenen Wesen entspricht. Ich bin dankbar, überhaupt noch zu leben.« Sie blickte an sich hinab und dann zu den tänzelnden Flammen im Kamin. »Leider ist viel von dem verloren, was mich einst ausmachte. Also bin ich es, und ich bin es nicht.«
»Aber warum bist du hier und nicht in Albenmark?«, fragte Nura mon. »Du könntest bei meiner Sippe sein. Es könnte so sein wie frü her.«
In ihrem Gesicht flammte Erstaunen auf. »Ich bin deinetwegen hier«, sagte sie.
Nuramon schüttelte den Kopf. »Aber ich habe nicht danach verlangt. Wozu sind all meine Verwandten im Kampf gegen die Drachen gestorben? Wozu haben wir die Reste deines hölzernen Körpers eingesammelt und den Weg zu Alaen Aikhwitan auf uns genommen? Damit du alles fortwirfst, um in meiner Nähe zu sein? Mir ist es bestimmt, hier zu sein, aber dein Schicksal hätte in Albenmark erblühen sollen.«
Ceren wirkte enttäuscht. »Ich wollte dir nicht wehtun. Ich will dir beistehen. Ich gehöre zu dir.«
Nuramon schüttelte erneut den Kopf, dann wandte er sich ab und verließ wortlos das Zimmer. Daoramu schaute ihm nach. So aufgewühlt hatte sie ihn noch nie erlebt. Sie überlegte, ob sie ihm folgen sollte. Da entfernte sich Ceren vom Feuer, wurde durchsichtig, und ihre Beine schienen mit einem Mal in Flammen zu stehen. Sie flüsterte etwas Elfisches und musterte Daoramu eindringlich. »Wer bist
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