Nuramon
es der Zeit und allem, was damit einherging, zum Opfer gefallen war. Das Zimmer war staubig und von Spinnweben durchzogen. Auf dem Schreibtisch unter dem Fenster entdeckte Nuramon eine kleine Truhe mit einem goldenen Elfenmuster. Er hatte solche Truhen einst am Hof der Elfenkönigin gesehen.
Nuramon zögerte und schaute zu seinen Gefährten zurück. Diese waren an der Schwelle zurückgeblieben und nickten ihm aufmunternd zu. Er atmete durch und wagte es schließlich, die Truhe zu öffnen. Er fand darin eine Schriftrolle und einen faustgroßen, milchweißen Stein.
Ein Albenstein war es nicht, das spürte Nuramon sofort, denn den mächtigen Artefakten der Alben merkte man ihre Magie kaum an. Dieser Stein aber strahlte Nuramon seine Magie geradezu ins Gesicht, so sehr war er von ihr erfüllt. Obwohl dem glatten, wie vom Flusswasser blankgespülten Stein mit bloßem Auge nichts von seiner Macht anzusehen war, knüpfte sich ein gewaltiger Zauber an ihn; ganz so, als hätte man ihn lange in eine magische Quelle gelegt.
Nuramon griff nach der Schriftrolle und wendete sie. Kein Name, kein Siegel, nichts. Er entrollte das Papier und fand elfische Schriftzeichen. Schon die Anrede überraschte ihn und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er senkte den Brief und schaute zu Daoramu zurück. Sie, Nylma und Yargir betrachteten ihn mit besorgten Mienen. Er wollte sie anlächeln, war aber so aufgewühlt, dass er es nicht vermochte. Er atmete noch einmal durch und hob den Brief wieder an. Darin stand Folgendes geschrieben:
Lieber Bruder,
verzeih, dass ich Dir bei unserem Abschied nichts gesagt haben werde. Emerelle hat alles in Bewegung gesetzt. Sie sagte, sie könne eure Nähe bereits spüren. Alles ist vorbereitet, heimlich, auf dass unsere Feinde es nicht merken. Die Albenkinder kehren heim und alle, die in Emerelles Plan eingeweiht sind, warten auf den Augenblick, da Du und Deine Gefährten mit dem Albenstein zurückkehren, den wir benötigen. Dem Stein des Rajeemil. Wenn Du diesen Brief liest, ist das eingetreten, was Emerelle voraussah.
Uns beiden war nie viel gemeinsame Zeit gegeben, und als Du mich zu Deiner Schwester wähltest, war ich noch ein Kind. Aber die Jahre, die Du fort warst, können nicht nehmen, was Du mir anvertraut hast, als Du mich in Iskendria fandest und ein Stück auf Deiner Reise mitnahmst. Manche Augenblicke sind wichtiger als ganze Jahrzehnte und Jahrhunderte. Und die Zeit mit Dir ist vielleicht die wichtigste Zeit meines Lebens.
Das ist nicht einfach dahingesagt, und es bedeutet viel, denn gewaltige Dinge liegen hinter mir. Viele betrachten mich und wundern sich, wie ich das alles schaffen konnte und warum ich mit der Macht nicht wachse. Die Antwort ist: Im Grunde bin ich stets das Kind geblieben, das du kanntest. Mein Gemüt ist nie ganz herangewachsen.
Wenn ich im Herzland bin, verbringe ich die meiste Zeit in Deinem alten Haus, in der Krone des Alaen Aikhwitan. Manchmal kommt Obilee zu mir. Sie weiß von Deiner nahenden Rückkehr, und sie weiß, dass Dein Schicksal in der Welt der Menschen liegt und nach unserem Zauber kein Weg mehr zwischen den Welten bestehen wird. Sie liebt Dich, Nuramon.
Nuramon hielt inne und fuhr sich über die Augen. In seiner Erinnerung sah er Obilee in jenem Augenblick, da sie die Hand nach ihm hätte ausstrecken und ihn zu ihrem Geliebten hätte machen können. Bisher hatte er geglaubt, Obilee habe ihn aus Respekt vor Noroelle zurückgewiesen. Noroelle und die Frage, ob sie sich wirklich für Farodin entschieden hätte, hätte stets zwischen ihnen gestanden. Falls aber Obilee tatsächlich gewusst hatte, was ihm bevorstand, hatte sie ihn auch um seinetwillen gehen lassen, damit er hier irgendwo in dieser Welt sein Schicksal fand.
Begierig las er weiter.
Du ahnst nicht, wie glücklich ich war, als ich hörte, dass Du wiederkehren würdest, und wie traurig ich war, als ich vernahm, dass Du uns verlassen müsstest, um Deinen Pfad ins Mondlicht in der Fremde zu suchen. Nun aber bin ich zufrieden, denn ich weiß, dass Du Deine Erfüllung finden wirst. Was genau ich gewahrte, werde ich Dir nicht sagen, weil ich sonst das Schicksal verändern könnte. Aber Emerelle erinnerte mich an etwas, das ich ihr einst anvertraute. Ein Kleinod aus meinen glorreichen Tagen, das für Dich bestimmt ist und das ich ihr übergab, damit sie es vollendete. Nur sie verfügte über die Macht, das Kleinod zur Blüte zu bringen. Sie hat diesen weißen Stein, den ich dir überlasse, reifen lassen,
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