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O du Mörderische

Titel: O du Mörderische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ließen
     uns Zeit. Als ich im Mai, unmittelbar nach meinem sechzigsten Geburtstag, in den Ruhestand gegangen war, hatte ich von genau
     dieser Art Morgen geträumt.
    Ich bewunderte die Weihnachtsdekoration, die seit Thanksgiving auf der Bildfläche erschienen war. Unser Viertel ist in der
     Vorweihnachtszeit so richtig schön kitschig: Wir geben uns nicht mit diesen kleinen weißen Lichtern zufrieden. Wir brauchen
     schon die dicken, bunten rund um die Dachtraufen unserer Häuser, darunter geht’s nicht. Dazu noch ein paar lebensgroße Krippenszenen
     in den Gärten und massenhaft Weihnachtsmänner und Rentiere, die über die Dächer fliegen, und wir sind gerüstet für die Saison.
    Als wir nach Hause kamen, gab ich Woofer einen Happen zu fressen, sprang kurz unter die Dusche und zog, passend zur Jahreszeit,
     mein rotes Kostüm an. Ich wollte mich mit Bonnie Blue Butler im Rosedale-Center treffen. Sie würde sich königlich amüsieren
     über Mrs.   Santa.
    Ich war vor ihr im Blue Moon Tea Room, hatte aber kaum meine erste Tasse koffeinfreien Kaffee zum Mund geführt, als ich auch
     schon ein »Huhu, Patricia Anne!« vernahm: Bonnie Blue schob sich mit einem großen Weihnachtspaket zu meinem Tisch durch.
    Jedesmal wenn ich sie sehe, bin ich erstaunt, wie sehr sie mich an Mary Alice erinnert. Sie haben ähnliche Körpermaße, kleiden
     sich gleich, haben die gleiche Art zu gehen, selbst vom Charakter her ähneln sie sich. Nur ist Bonnie Blue eine Schwarze und
     ungefähr fünfzehn Jahre jünger. Trotzdem, wenn |11| sie zusammen sind, ist es, als habe man ein Foto und das dazugehörige Negativ vor sich.
    Ich stand auf, um ihr mit dem Paket behilflich zu sein, und wir umarmten uns.
    »Puh«, sagte sie, während sie auf ihren schmiedeeisernen Stuhl niedersank, »hier ist’s aber ganz schön eng.«
    »Willst du lieber woandershin?«
    »Um Himmels willen, nein. Ich hab’ den Treffpunkt ja ausgesucht. Der Hühnersalat und die Orangenbrötchen hier sind es wert,
     daß man ein wenig eingeklemmt sitzt.« Sie musterte mich. »Wiegst du immer noch achtundvierzig Kilo?«
    »Ja«, gab ich zu, »aber vergiß nicht, ich bin auch nur eins fünfundfünfzig.«
    »Ißt du überhaupt was?«
    Ich beteuerte, daß ich sehr wohl essen würde. Mary Alice erzählte überall herum, ich sei magersüchtig, und hatte Bonnie Blue
     offenkundig diesbezüglich überzeugt.
    »Wie geht’s Fred und Haley?«
    Ich erklärte, meinem Mann und meiner Tochter gehe es gut.
    »Trifft sie sich noch immer mit diesem Sheriff Reuse?«
    »Hin und wieder«, räumte ich ein.
    »Hmmm.« Sheriff Reuse zählte nicht zu Bonnie Blues Favoriten.
    Die Kellnerin kam und nahm unsere Bestellung auf, Hühnersalat und Orangenbrötchen für uns beide. Als sie wieder weg war, griff
     Bonnie Blue nach dem Weihnachtspaket, das an die Wand gelehnt stand.
    »Hier, ein kleines Dankeschön für dich«, sagte sie.
    »Aber Bonnie Blue, wofür denn bloß?«
    »Für den Job.« Sie hielt mir das Paket hin. »Und überhaupt.«
    Mir stiegen die Tränen in die Augen. »Den Job hast du dir doch ganz alleine besorgt.«
    »Aber du hast ihnen von mir erzählt. Und es ist ein guter Job, Patricia Anne. Die Leute sind nett.«
    |12| Bonnie Blue hatte eine Zeitlang in einer Fernfahrer-Raststätte gearbeitet, was echte Knochenarbeit war, auch wenn Bonnie Blue
     definitiv kein junges mageres Ding war, und ich hatte mir Sorgen um sie gemacht. Als ich eines Tages im Big, Bold and Beautiful
     Shop ein Geschenk für meine Schwester kaufte, kam ich mit der Inhaberin ins Gespräch, und sie erzählte mir, daß sie auf der
     Suche nach einer Verkäuferin sei, die vom Typ her in den Laden passe, in dem es wirklich nur Mode ab Größe 44 gab. Ein Telefonanruf,
     und Bonnie Blue hatte die Stelle. Es war auch ein harter Job, und sie war nach wie vor lange auf den Beinen, aber verglichen
     mit der Plackerei in der Raststätte war es das reinste Zuckerlecken.
    Ich nahm das Paket, das Plakatformat hatte, und begann es auszuwickeln. Eine Ecke bemaltes Sperrholz kam zum Vorschein und
     die Signatur »ABE«, mit spiegelverkehrtem E.   Entgeistert starrte ich Bonnie Blue an.
    »Das kann nicht sein«, sagte ich.
    »Mach weiter«, meinte sie lächelnd. »Aber sei vorsichtig.«
    Ich riß das restliche Papier ab und blickte auf das Bildnis eines alten schwarzen Mannes in schwarzem Anzug und blauem Hemd.
     Er hielt einen Stock in der Hand. Seine Beine waren zu lang, die Arme zu kurz, und seine Füße zeigten beide nach

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