O du Mörderische
Früchtekuchen,
aber die Früchteplätzchen mit denselben Zutaten verschwinden immer schneller, als ich überhaupt |99| schauen kann. Es war gut möglich, daß ich, da ich jetzt schon so früh welche machte, an Weihnachten eine zweite Fuhre würde
backen müssen.
In meiner Familie gab es keine großen Köche, so daß ich Gott sei Dank nicht irgendwelche Erwartungen erfüllen muß. Mama konnte
wunderbar Hühnchen braten, und ihre Maisbrotfüllung für den Truthahn, der nur an Thanksgiving und Weihnachten auf den Tisch
kam, war laut Fred der Grund, warum er mich geheiratet hat. Sie hatte kein Rezept, aber ich hatte ihr so oft zugesehen, daß
ich der Meinung gewesen war, ich wüßte, wie man sie machte. Stimmte aber nicht. Das erste Thanksgiving nach ihrem Tod war
einer dieser denkwürdigen Tage, an denen einem bewußt wird, daß jemand wirklich gegangen ist. Wir grämten uns den ganzen Tag
und sehnten uns nach dem Geruch der heißen Füllung. Nach Mama. Bei Großmama war es die Süßkartoffel-Pie mit Schaumguß. Beides
brachte niemand von uns so richtig hin. Abgesehen von derlei Spezialitäten ernährten sie ihre Familien ganz normal, und das
war auch in Ordnung so.
Die Früchteplätzchen wurden bei uns zu Hause gebacken, seit ich denken kann. Ich nehme jedes Jahr die Rezeptkarte heraus und
befolge die in Mutters akkurater Handschrift verfaßte Anleitung. Der letzte Satz lautet: »Man macht sie der Rührerei wegen
am besten zusammen mit einer Freundin.« Man hatte dann mehr Spaß als mit einer Küchenmaschine, aber für heute würde ich mit
dieser vorliebnehmen müssen. Ich trank einen Schluck Tee, stellte im Radio den Oldiesender ein und fing an, Datteln, Kirschen,
Ananas und Pekannüsse zu hacken. Ich summte einen Doris-Day-Song mit, während ich Butter cremig rührte und Vanille, Zitrone
und Orangenextrakt hinzufügte. Ideale Musik zum Backen, Doris. So, nun Zimt, Muskat, Gewürznelken und Zucker. Mehl. Und, schwupps,
die gehackten Früchte in die Rührschüssel. Rühren, Küchenmaschine, liebe Freundin, rühren.
|100| Die aktuellen Lokalnachrichten begannen. Es war von nichts anderem die Rede als von dem Mord an der international bekannten
Künstlerin Mercy Armistead, dem Verhör ihres All-American-Football-Ehemannes Thurman Beatty und der Anwesenheit der einstigen
Miss America in der Stadt, Betty Bedsole, der Mutter der bekannten internationalen Künstlerin Mercy Armistead, welche ihrerseits
Frau des All-American-Football-Stars Thurman Beatty war, dem Schwiegersohn der bildschönen einstigen Miss America, Betty Bedsole,
et cetera, et cetera.
»Lieber Gott.« Ich drehte die Lautstärke herunter, bis wieder Musik lief. Mercy Armistead war jung, schön und talentiert und
hätte eigentlich noch das ganze Leben vor sich gehabt. Wie berühmt sie auch immer gewesen sein mochte, wenn sie’s denn war,
spielte doch gar keine Rolle. Und ihre Familie hatte das Recht, in Ruhe zu trauern, unabhängig davon, wer sie waren. Ein Recht,
das die Presse nicht anzuerkennen schien.
Ich heizte den Backofen auf 160 Grad vor und setzte den Teig teelöffelweise auf Backbleche. Ich stellte die Zeituhr, brühte mir eine weitere Tasse Tee auf
und ging ins Wohnzimmer zum Lesen. Ich wollte eigentlich unbedingt noch einmal ›König Lear‹ für meinen Literaturzirkel lesen.
Aber ich konnte dem neuen Krimi von Tony Hillerman nicht widerstehen, der auf dem Kaffeetisch lag. Was mit König Lear passierte,
wußte ich schließlich schon.
Zwanzig Minuten später riß mich die Herduhr aus dem Lande der Navajo. Ich legte das Buch widerstrebend beiseite und ging die
Plätzchen aus dem Ofen nehmen. Sie sahen großartig aus, nur leicht gebräunt an den Rändern. Wer würde wohl nun, da seine geliebte
Emma tot war, für Leutnant Joe Leaphorn draußen im Reservat Plätzchen backen, fragte ich mich.
Das Klingeln an der Haustür ließ mich hochfahren. Fast hätte |101| ich das Backblech mit den Plätzchen fallen lassen. Ein Blick aus dem Fenster sagte mir, daß der Regen noch nicht nachgelassen
hatte und es allmählich zu dämmern begann. Ein UP S-Paket , dachte ich, oder vielleicht Bo Peep Mitchell.
Ich wischte meine Hände an einem Geschirrtuch ab und ging zur Tür.
»Mrs. Hollowell?«
Zunächst erkannte ich die Frau gar nicht, die da draußen stand, verständlicherweise – schließlich hatte ich sie erst einmal
gesehen, bei der Galerieeröffnung.
»Ich bin Liliane Bedsole. Darf ich
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