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O du Mörderische

Titel: O du Mörderische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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reinkommen?«
    Ich war verblüfft. »Aber natürlich.« Ich öffnete die Tür.
    »Ich bin ganz naß«, sagte sie zögernd. Sie trug einen roten Regenmantel mit Kapuze, der aussah, als gehöre er einer Märchengestalt,
     aber wohl eher von irgendeinem exklusiven Designer stammte. In der Hand hielt sie einen tropfenden rotweiß gestreiften Regenschirm.
    »Hier ist ein Schirmständer«, sagte ich. »Kommen Sie rein.«
    Sie klappte den Schirm zu und trat ein. »Was für ein schönes Stück«, sagte sie mit einem bewundernden Blick auf den Garderobenständer,
     als ich den Schirm hineinstellte.
    »Ein Erbstück von meiner Großmutter«, erwiderte ich. »Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
    Sie ließ ihren Rotkäppchenmantel von der Schulter gleiten, und ich konnte sie zum ersten Mal richtig betrachten. Sie wirkte
     abgespannt, nicht die leicht maskenhaft verzerrten Züge einer mehrfach gelifteten Person, sondern die Miene von jemand, der
     sich Sorgen machte und zu wenig geschlafen hatte. Ihre Augen waren rot gerändert, als hätte sie erst vor kurzem geweint. Sie
     sah alt und vollkommen erschöpft aus. Ihre Haut war fleckig über dem schwarzen Rollkragenpullover, und ihr Haar, das einmal
     rotblond gewesen sein mochte, war nun definitiv karottenfarben.
    |102| »Sie wundern sich sicher, warum ich hier bin.«
    »Das können Sie mir im Wohnzimmer erzählen«, sagte ich. »Ich wollte mir gerade einen Gewürztee machen. Möchten Sie welchen?«
    Sie seufzte. »Das wäre wunderbar.«
    Ich führte sie ins Wohnzimmer, wo sie aufs Sofa sank. »Hier riecht’s aber gut«, sagte sie.
    »Ich backe gerade Früchteplätzchen für Weihnachten.«
    »Oh, dann will ich Sie gar nicht aufhalten.«
    »Ich bin an einem Punkt, wo man mich ruhig aufhalten kann«, beruhigte ich sie.
    Liliane Bedsole nickte. Ich ging in die Küche, schaltete den Wasserkocher ein und nahm den Spachtel aus der Schublade. Sämtliche
     Plätzchen ließen sich wunderbar lösen. Ich probierte eins. Köstlich. Ich legte einige auf einen Teller, um sie ins Wohnzimmer
     zu bringen.
    »Was für ein wundervoller Abe.«
    Ich drehte mich um und sah Liliane Bedsole vor meinem
    Bild stehen.
    »Seine Tochter hat ihn mir geschenkt«, sagte ich.
    »Schauen Sie sich dieses Haar an. Ich sah es vom Sofa aus und sagte mir, das kann doch nicht sein. Aber es ist tatsächlich
     echt. Unglaublich.«
    »Ja, schön, nicht?« Schade, daß Fred das nicht hören konnte. Ich goß den Tee ein, stellte die Tassen und die Plätzchen auf
     ein Tablett und trug sie ins Wohnzimmer.
    »Oh, das ist reizend.« Liliane Bedsole kam zurück und setzte sich wieder aufs Sofa. Sie nahm sich einen Keks und betrachtete
     ihn. »Meine Mutter pflegte solche zu backen«, sagte sie.
    Ich setzte mich neben sie. »Ein altes Rezept aus dem Süden.«
    »Ja.« Wir bissen beide in unser Plätzchen und tranken einen Schluck Tee. Sie sah zum Fenster hinüber, an dem der Regen herunterrann.
    |103| »Sie suchen nach Claire, stimmt’s?« brach es aus mir hervor.
    »Ja.«
    »Ich habe keine Ahnung, wo sie ist.«
    Liliane seufzte. »Wissen Sie, Claire ist meine Pflegetochter. Ich habe gehofft, Sie hätten vielleicht etwas von ihr gehört.
     Ich weiß, daß sie gestern hier war und daß Sie sie ins Krankenhaus gebracht haben.«
    »Mrs.   Bedsole«, sagte ich. »Ich weiß nicht, warum Claire hierhergekommen ist. Ich habe sie vor zehn oder fünfzehn Jahren unterrichtet
     und hatte sie bis zu dem Abend in der Galerie nicht mehr gesehen.« Ich legte mein Plätzchen ab. »Es tat mir so leid, vom Tod
     Ihrer Nichte zu hören.«
    Liliane Bedsole musterte eingehend ihre Teetasse, als würde sie ihre Zukunft darin lesen. »Danke. Ich kann es noch immer nicht
     fassen, daß Mercy nicht mehr unter uns ist.« Sie war einen Moment lang still. Dann sagte sie: »Erzählen Sie mir von Claire.
     Die Polizeibeamtin, mit der ich gesprochen habe, sagte, sie habe einen Kollaps erlitten.«
    Ich wollte, ich hätte ihr einfach nur erzählen können, was der Sanitäter zu mir gesagt hatte: daß Claires Streßsignale Amok
     liefen. Was ihren Zustand perfekt beschrieb. Aber Liliane verdiente mehr. Ich erzählte ihr die ganze Geschichte mit Ausnahme
     der Graffiti an Claires Wand. Diese Lücke sollte Bo Peep Mitchell schließen. Ich erwähnte nur etwas von Vandalismus.
    Liliane Bedsole hörte ruhig und ohne irgendeine Frage zu stellen zu. Als ich geendet hatte, beugte sie sich vor und stellte
     ihre Teetasse auf den Tisch. »Was denken Sie, wie es ihr

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