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O du Mörderische

Titel: O du Mörderische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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»Du stehst da vor Gericht,
     Patricia Anne, und du siehst diese Menschen, die nicht wie Monster aussehen, und dann bekommst du mit, was sie ihren Kindern
     angetan haben, und es erschüttert dich bis ins Mark.«
    »Und wo sind sie jetzt? Die Eltern, meine ich.«
    »Beide tot, soweit ich weiß. Der Vater geriet im Gefängnis in einen Streit und wurde von einem Knastkumpel umgebracht. Die
     Mutter starb an einer Überdosis Drogen.«
    »Und Liliane Bedsole nahm die Kinder zu sich.«
    Frances lehnte sich zurück und spielte mit einem Bleistift auf ihrem Schreibtisch.
    »Das kostete ganz hübsch Kraft und Nerven. Kinder sind nicht so zäh und unverwüstlich, wie wir das gern hätten.«
    »Nun will ich dir mal erzählen, was mit Claire los ist«, sagte ich, »was ihr jetzt passiert ist.« Ich kehrte zu der Begegnung
     in der Galerie zurück und erwähnte, daß Liliane Bedsole dort gewesen war. Ich erzählte, wie wundervoll Claire ausgesehen hatte,
     dünn, aber elegant. Ich erzählte, wie Claire auf meiner Treppe aufgetaucht war und behauptet hatte, jemand habe sie umbringen
     wollen, was offenkundig der Wahrheit entsprach, und daß ich keine Ahnung hätte, warum sie zu mir |92| gekommen war, außer vielleicht weil sie mich am Abend zuvor getroffen hatte.
    »Sie suchte einen sicheren Zufluchtsort«, sagte Frances.
    Ich zuckte die Achseln.
    »Doch, das ist so. Lehrer unterschätzen, welche Rolle sie im Leben ihrer Schüler spielen.«
    »Vielleicht.« Ich fuhr mit meiner Geschichte fort und erzählte von Claires Zusammenbruch und dem Abstecher, den Bo Peep Mitchell
     und ich zu Claires Wohnung unternommen hatten.
    Frances rutschte auf ihrem Stuhl immer weiter nach vorn. Als ich die Bilder beschrieb, wurden ihre Augen größer und größer.
    »Gott im Himmel!« rief sie aus, als ich meinen Bericht mit der Messerkerbe in der Tür beendete.
    »Was, glaubst du, hat das zu bedeuten?« fragte ich.
    »Ich denke, das bedeutet, daß sie in der psychiatrischen Abteilung gut aufgehoben ist. Ich hoffe, sie bewachen sie anständig.«
    »Wo wohl ihre Schwestern sind?«
    »Das weiß Gott im Himmel. Und wahrscheinlich Liliane Bedsole. Wenn ich es richtig verstanden habe, wurden sie auf eine Privatschule
     geschickt, als sie kräftig genug waren.«
    Frances wurde zu einem Elterngespräch im Zimmer des Rektors gerufen und ließ mich mit der Akte allein. »Halt mich auf dem
     laufenden, Patricia Anne. Und am Sonnabend essen wir zusammen zu Mittag. Okay?«
    »Wie wär’s mit dem Blue Moon Tea Room im Rosedale-Center?«
    »Eigentlich eine schöne Idee. Aber wäre nicht ein Restaurant praktischer, das näher liegt?«
    »Die Fahrt lohnt sich«, sagte ich. »Das garantiere ich dir.«
    Als sie draußen war, öffnete ich die Akte und begann zu lesen. Wenn man ihren Lehrern glaubte, war Claire ruhig und |93| folgsam gewesen, hatte einen Hang zu Unfällen (ich konnte mir die Blutergüsse vorstellen, die dieser Bemerkung zugrunde lagen)
     und eine Neigung zum Tagträumen und Schlafen im Unterricht gehabt. Häufig Opfer von Schikanen, war sie von einem Lehrer angehalten
     worden, »sich zu verteidigen und zurückzuschlagen«. Einige erwähnten mangelnde Hygiene (was im Klartext hieß: Sie benötigte
     ein Bad und saubere Kleider) und Elterngespräche, zu denen die Eltern nicht aufgetaucht waren.
    Es war das klassische Porträt eines mißhandelten oder zumindest vernachlässigten Kindes. Und Frances hatte gesagt, die Kinder
     suchten bei ihren Lehrern Sicherheit und Geborgenheit? Tränen traten mir in die Augen. Ich wischte sie weg.
    Ich wußte schon aus meinem Jahrbuch, daß Claire mit Ausnahme der Kunst-AG an keinerlei außerunterrichtlichen Aktivitäten teilgenommen
     hatte. Ihre Noten wurden besser, nachdem Liliane Bedsole als ihr Vormund eingetragen worden war, und bei der Aufnahmeprüfung
     fürs College hatte sie ganz passabel abgeschnitten.
    Ich legte die Unterlagen auf Frances’ Schreibtisch und schloß beim Hinausgehen die Tür hinter mir. Ich wußte selbst nicht
     genau, wonach ich eigentlich gesucht hatte; vielleicht nach ein paar erhellenden Details, die mir Aufschluß über das verängstigte
     Wesen geben würden, das bei mir Zuflucht gesucht hatte. Doch nun war ich mir nicht sicher, was außer zusätzlichen Fragen dabei
     herausgekommen war. Die Verbindung zur Bedsole-Familie warf bereits die erste Frage auf. War es nicht logisch, daß derjenige,
     der Mercy Armistead umgebracht hatte, auch versucht hatte, Claire zu töten? Was wiederum

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