Obduktion
Art. Er mag jeden, und jeder mag ihn.«
»Ich habe überhaupt kein Problem mit Alex. Mein Problem ist, dass mir Sana entgleitet und ich nicht genau weiß, in welche Richtung. Verstehst du, was ich meine? Nimm zum Beispiel ihr Haar. Es war herrlich lang, und ich habe ihr gesagt, sie soll es nicht abschneiden, also lässt sie es abschneiden. Ich bitte sie darum, kleine Dinge im Haus zu machen – meine T-Shirts bügeln oder so –, und sie erzählt mir, dass sie genauso hart arbeitet wie ich. Ich bitte sie, den Schnee wegzuschaufeln oder den Müll rauszubringen, und weißt du, was sie da sagt?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Jack und hoffte, sein Tonfall signalisierte zum einen, dass er es nicht wusste, und zum anderen, dass er es auch gar nicht wissen wollte.
»Sie schlägt mir einen Handel vor. Ich soll bügeln und sie bringt den Müll raus und schaufelt Schnee. Kannst du dir das vorstellen?«
»Das hört sich nicht gut an«, antwortete Jack ausweichend. Er hatte eigentlich nicht die geringste Lust, sich in irgendwelche Ehestreitigkeiten hineinziehen zu lassen. »Wie war noch mal deine Adresse?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Morton Street vierzig. Weißt du noch, wie man dahin kommt?«
»So ungefähr«, gestand Jack. Er zog einen kleinen Notizblock hervor und schrieb die Adresse auf. »Okay, sofern meine Frau keine anderen Pläne hat, bin ich um sieben da. Und was ist mit morgen? Wollt ihr morgen arbeiten? Falls ihr das vorhabt und es euch nicht stört, würde ich gern mal vorbeischauen und sehen, wie ihr vorankommt.«
»Ich werde dich auf dem Laufenden halten. Sana wird
vielleicht ausschlafen wollen. Aber ich bin viel zu aufgekratzt, darum werde ich morgen früh hier sein. Ich muss so schnell wie möglich herausfinden, was Simon Magus zu sagen hatte und ob er sich rehabilitieren kann. Ich habe mich schon immer gefragt, ob er nicht einfach nur ein Prügelknabe war. In der Kirche herrschte im ersten Jahrhundert eine solche Unordnung, dass sie einen Sündenbock brauchte. Und dann war da dieser arme Simon Magus, der sich wünschte, besser heilen zu können, und natürlich seine Kumpane, die Gnostiker.«
»Bist du dir sicher, dass du oben mit dem ganzen Glas fertig wirst?«, fragte Jack noch einmal, bevor er sich zum Gehen wandte. Er wollte nach Hause und die Sache mit der Abendeinladung klären. Vielleicht würde es ihm gelingen, Laurie davon zu überzeugen, jetzt ein bisschen aus dem Haus zu gehen, damit er am Abend das gleiche Recht für sich in Anspruch nehmen konnte. Er wusste, dass seine Chancen nicht gerade gut standen, aber er wollte es auf jeden Fall versuchen.
»Sana und ich kommen schon klar«, antwortete Shawn und winkte zum Abschied. »Bis heute Abend.«
»Ich will’s hoffen«, sagte Jack und streckte zum Abschied den Daumen hoch. Er wurde zusehends nervös und hatte Schuldgefühle, weil es bereits nach Mittag war, deshalb joggte er zurück zum OCME-Hauptgebäude an der 30. Straße, Ecke First Avenue. Er widerstand der Versuchung, noch in sein Büro zu gehen, griff einfach nach seinem Fahrrad, winkte den Wachleuten zu und machte sich auf den Heimweg.
Kaum saß er auf dem Rad, fühlte er sich gleich besser. Er würde in dreißig Minuten zu Hause sein, und wenn es ihm gelingen würde, Laurie aus dem Haus zu scheuchen, könnte er wenigstens einen kleinen Teil seiner Schuld abtragen. Sollte JJ einen schlechten Tag gehabt haben,
wäre daran allerdings nicht zu denken. Dann würde Laurie sich weigern, das arme Kind in Jacks vergleichsweise unbedarften Händen zu lassen. Auch ungeachtet aller persönlichen emotionalen Verstrickungen konnte Jack mit kranken Kindern einfach nicht umgehen, wie seine Assistenzzeit in der Pädiatrie im dritten Ausbildungsjahr an der medizinischen Hochschule nachhaltig bewiesen hatte.
Jacks Gemütsverfassung heiterte sich unter dem Eindruck des Wetters rasch auf. Es war fast perfekt mit einem wolkenlosen, kristallblauen Himmel und Temperaturen, die für einen Dezember in New York sehr mild waren. Überdies hing eine gewisse Festtagsstimmung in der Luft – die Stadt wimmelte von frühen Weihnachtseinkäufern, die den Menschenmassen ein Schnippchen schlagen wollten.
Jacks Heimweg führte am Zoo im Central Park vorbei, der voller Kinder in Begleitung ihrer Eltern war. Es schnürte Jack die Kehle zu, als er sich fragte, ob er wohl je die Gelegenheit haben würde, so einen Ausflug mit JJ zu unternehmen. Ein Stückchen weiter, gleich hinter einem schönen Spielplatz mit
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