Obduktion
nicht, ob es sich dabei um das Jahr ihres Todes oder um das ihrer Wiederbestattung handelt. Wir hoffen, dass die Schriftrollen das Rätsel ihrer Identität beleuchten, aber wir haben sie noch nicht ausgerollt und konnten sie deshalb natürlich noch nicht lesen.«
»Was ist mit dem Alter der Frau?«, wollte Sana wissen. »Können Sie das feststellen?«
»Nicht sehr genau«, sagte Alex. »Leider sind Knochen nicht wie Baumstämme, bei denen man nur die Ringe abzählen muss. Tatsächlich erneuert sich der Knochen während der Lebenszeit eines Menschen permanent. Deshalb können wir auch genaue Radiokohlenstoffdatierungen durchführen. Sie könnten in Erwägung ziehen, auf diese Methode zurückzugreifen, um das Alter der Knochen mit der Jahreszahl auf dem Ossuarium zu vergleichen. Dank der neuen Technik wird dafür nur noch eine extrem kleine Materialprobe benötigt.«
»Wir werden daran denken«, antwortete Shawn.
»Wenn Sie ihr Alter schätzen sollten, was würden Sie sagen?«, fragte Sana.
»Mit über fünfzig wäre ich auf der sicheren Seite. Aber wenn ich mich etwas aus dem Fenster lehnen wollte, dann würde ich sagen, achtzig. Die Spuren von Arthritis in den Finger- und Fußknochen lassen darauf schließen, dass es sich hier um einen alten Menschen handelt. Was meinen Sie, Jack?«
»Ich glaube, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Das Einzige, was mir noch auffällt, sind leichte Anzeichen von Tuberkulose an ein paar Wirbeln, aber sonst war sie in sehr guter Verfassung.«
»In bemerkenswert guter Verfassung«, pflichtete Alex bei.
»Ich bin ganz aufgeregt«, sagte Sana. »Die Versiegelung muss perfekt funktioniert haben. Ich war nicht allzu optimistisch, ob ich DNA finden würde, aber jetzt bin ich es. Angesichts der Zähne, die sich noch im Kiefer befinden, und der trockenen Knochen muss noch intakte mitochondriale DNA vorhanden sein.«
»Freu dich nicht zu früh«, warnte Shawn.
»Warum suchen Sie nach DNA?«, fragte Alex. »Haben Sie etwas Bestimmtes im Sinn?«
Sana zuckte nur die Schultern. »Es wäre eine spannende Herausforderung und könnte interessant sein herauszufinden, woher sie kam. Ich meine abstammungsmäßig. Das Ossuarium wurde in Rom gefunden, aber das heißt noch nicht, dass sie auch aus Rom stammte, oder überhaupt aus Italien. Wegen der Pax Romana gab es im ersten Jahrhundert viele Migranten. Außerdem wäre eine Frau aus dem ersten Jahrhundert eine interessante Ergänzung der internationalen Datenbank für mitochondriale DNA.«
»Wie werden Sie es anstellen?«, fragte Alex. »Nach welchem Verfahren gehen Sie vor?«
»Zuerst werde ich versuchen, in einem Zahn etwas zu finden. Falls das keine Ergebnisse liefert, probiere ich es mit dem Knochenmark. Aber egal wie – es ist nicht weiter kompliziert. Zunächst einmal wird die Außenseite des Zahns gründlich gesäubert, um jede Kontamination mit fremder DNA auszuschließen. Dann schneide ich in die Zahnkrone und ziehe das trockene Zahnmark aus dem Wurzelkanal. Ich löse es in einem Lösungsmittel auf, um die Zellwände aufzubrechen, füge Protease hinzu, um das Protein zu eliminieren, und extrahiere dann die DNA. Sobald die herausgelöste DNA vorliegt, vervielfältige ich sie mit PCR, dann wird sie quantifiziert und dann sequenziert. Und das war’s dann schon.«
»Wie lange werden Sie dafür brauchen?«, fragte Alex. »Es interessiert mich, wie es dann weitergeht.«
Sana schaute zu Shawn hinüber, der kaum merklich seine Zustimmung signalisierte. »Das hängt zu einem gewissen Grad von den ersten Sondierungen ab. Und davon, ob intakte mitochondriale DNA vorliegt. Falls ja, sollte ich in ein paar Tagen, vielleicht in einer Woche, Ergebnisse haben. Einige der Arbeitsschritte funktionieren am besten, wenn man ihnen über Nacht Zeit gibt.«
»Alles klar«, sagte Alex, erhob sich von seinem Stuhl und gab Sana einen Klaps auf den Rücken. »Vielen Dank an die Runde, dass ich dabei sein durfte. Das war ein spannender Vormittag!« Während er zur Bioschleuse ging, um seinen Schutzanzug abzulegen, fiel sein Blick auf die drei alten Schriftrollen. Er blieb stehen und sah zu Shawn hinüber. »Ich war so in das Skelett vertieft, dass ich ganz vergessen habe, mich nach den Schriftrollen zu erkundigen. Was haben Sie damit vor?«
»Ich will sie lesen«, antwortete Shawn, dem die lockere Art, die der Anthropologe seiner Frau gegenüber an den Tag legte, nicht passte. »Aber zuerst muss ich sie ausrollen. Sie sind – verzeihen Sie den
Weitere Kostenlose Bücher